Die Erlebnisse der Margot Voigt

Wenn ein französischer Militärangehöriger während der Besat­zungszeit nach Berlin kam, wandte er sich an das Französische Wohnungsamt. Dort arbeiteten Margot Voigt und ihre Kolle­gen aus Frank­reich. Sie sorgten für passende Unterkünfte, für ein Zimmer, eine Wohnung oder gar ein Haus, je nach dem Rang und dem Familienstand des Wohnungssuchenden. An­fangs griff man auf beschlagnahmte Quartiere vorwiegend in Frohnau zurück, später dann auf die Wohnungen in den neu­erbauten Cités. Man unterschied nach Offiziers- und Unterof­fizierswohnungen; letztere waren weniger komfortabel ausge­stattet. Anfangs war die Dienststelle in Frohnau, dann in der Schulzendorfer Straße und schließ­lich im Quartier Napoléon.

Margot Voigt war 1934 nach Frohnau gekommen; damals war sie zehn Jahre alt. Ihr Vater, ein Ge­schäftsmann, der die Kon­fektionshäuser en gros mit Knöpfen belieferte, hatte es sich zur Bedingung gemacht, nur ein Grundstück zu kaufen, das an einer gepflasterten Straße lag. Das waren in den drei­ßiger Jah­ren noch nicht allzu viele. Außerdem sollte die städtische Ka­nalisation sozusagen vor der Gartentür liegen, denn eine der in Frohnau verbreiteten Sickergruben im Garten wollte er nicht haben. In der Rüdesheimer Straße 6 wurde er fündig.  Vater  Voigt  musste  7,50 Reichsmark  pro Quadratmeter zahlen und eine Hypothek von 20.000 Reichsmark aufnehmen. Das Haus wurde gebaut, erhielt seine Kanalisation und entwickelte sich zu einer gemütlichen Unterkunft. Allerdings hatten nicht alle umlie­genden Häuser einen Anschluss an die Kanalisation, und wenn die Sickergruben in die Gärten entleert wurden, zog sich Familie Voigt schnellsten ins Haus zurück und schloss die Fen­ster.

Margot war mit ihren zehn Jahren natürlich längst Schulkind. Sie hatte ihre Schule in Pankow lieb gewonnen, hatte dort ihre Freundinnen und kam auch mit den Lehrern zurecht. Warum sollte sie also in eine näher gelegene Schule umziehen? Die S-Bahn brachte sie schnell nach Pankow und wieder zurück, und so war der Schulbesuch im alten Heimatbezirk kein Problem. Trotzdem interessierte sie sich natürlich für Frohnau. Kaum dass sie umgezogen waren, erhielt sie ein Fahrrad, mit dem sie ihren neuen Heimatort erkundete. Als sie noch nicht ganz firm war und noch nicht alle Straßennamen kannte, geschah es ihr, dass sie einen Mann, der zur Speestraße wollte, der heutigen Gollanczstraße, zum Speerweg schickte, was ihr hinterher schrecklich peinlich war.

Vater Voigt hielt übrigens nichts von Autos. Er hätte sich durchaus eins leisten können, aber er wollte nicht. So lief er wie seine Tochter jeden Tag von der Rüdesheimer Straße zum Bahnhof und fuhr mit der S-Bahn zur Arbeit. Außerdem hielt er nichts von den neuen NS-Machthabern. Doch nahm er es zähneknirschend hin, dass Margot dem Bund Deutscher Mädel (BDM) beitrat. In einer Schule, in der der Direktor sein Amt in SA-Uniform ausübte, hätte ihr eine Weigerung nichts als Schwierigkeiten gebracht bis hin zu einem möglichen Schul­verweis. Alles, was das junge Mädchen tun konnte, war, gute Ausreden zu erfinden, um den Heimabenden möglichst oft fernbleiben zu können.

Wenn sie doch erschien, sang sie die gängigen Lieder mit, saß bisweilen am Lagerfeuer und hörte sich an, was die Leitung vom deutschen Mädel erwartete, also eine gute Hausfrau und eine vorbildliche Mutter zu werden. Lieber vergnügte sich Margot Voigt jedoch außerhalb des BDM. Auf den Dünen am Fürstendamm und der Oranienburger Chaussee ließ sich im Winter herrlich Schlitten und Ski fah­ren, und mit 15 Jahren trat die junge Dame der Frohnauer Tennisvereinigung bei.

Während des Krieges gab es eine Menge Verpflichtungen, alle selbstverständlich „freiwillig“. „Wir Frauen müssen unseren Teil zum Sieg Deutschlands beitragen,“ ließen die 150-prozen­tigen Nachbarn verlauten, und so meldete sich Mutter Voigt notgedrungen zum Kartoffelschälen in der Schule in der Lody­straße. Das war die frühere Speestraße, die, wie berichtet, einst für eine Verwechselung gesorgt hatte. In die Schule hatte man Flakhelfer einquartiert, junge Männer oder eher Jungen der Jahrgänge 1926-28, die von ihren Eltern als Luftwaffenhelfer bereitgestellt werden mussten. Damit sie auch er­nährt werden konnten, mussten die Frauen ein- bis zweimal pro Woche in der Küche helfen.

Als die Russen in Frohnau einzogen, galt es für die jungen Frauen, ein sicheres Versteck zu finden, um der Vergewalti­gung durch die Sowjet­armisten zu entgehen. Margots erstes Versteck war im Keller, doch dort hätte sie zu leicht entdeckt werden können. Danach steckte man sie in eine leere Sicker­grube, doch glückli­cherweise nicht für lange Zeit. Schließlich landete sie auf dem Dachboden eines Gartenhäuschens, der nur durch eine Leiter zugänglich war, die man bei Gefahr schnell nach oben ziehen konnte.

In der Nähe des elterlichen Heims hatte ein Tierarzt sein Haus, ein hun­dertfünfziger PG, der ins Fachwerk seines Hauses ein weithin sichtbares Hakenkreuz hatte einsetzen lassen. Die Tier­arztfamilie war na­türlich längst geflüchtet, als die Russen ein­zogen, ebenso ein weiterer Parteigenosse, dessen Haus ein Offi­zier mit seinem Stab besetzte. Im Garten bauten die Sowjets eine Gulaschkanone auf. Und jetzt geschah das Unerwartete. Der Koch des Stabes forderte Margots Mutter auf, mit einer großen Schüssel zu kommen, und sich von dem warmen Essen etwas einfüllen zu lassen. Als sie mit einer nicht ganz kleinen Schüssel erschien, schüttelte der Koch den Kopf. „Große Schüssel“, sagte er und formte mit seinen Armen einen großen Kreis. So suchten die Voigts ihre größte Emailleschüssel, die bis zum Rand gefüllt und dadurch so schwer wurde, dass der Koch sie zur Familie Voigt tragen musste. Die lebte eine Wo­che von dem Essen aus der Schüssel, das immer wieder ver­dünnt wurde, um länger etwas von dem Schmaus zu haben und weil man so viel Fett gar nicht vertragen hätte.

Noch in der Russenzeit ereignete sich etwas, an das sich Mar­got Voigt lebhaft erinnert. Am 27. Mai 1945 war ihr 21. Ge­burtstag, und so wurde sie volljährig. Majorenne, sagte man damals. Auf diesen Tag hatte sich die junge Frau schon lange gefreut. Ihre Volljährigkeit sollte mit einer großen Party gefei­ert werden. Aber jetzt, so kurz nach Kriegsende in einer Zeit, wo es nichts gab? Doch es geschah ein Wunder. Irgendwie musste sich das Ereignis herumgesprochen haben, jedenfalls tat sich die halbe Rüdesheimer Straße zusammen und sammelte. Kein Geld, denn das war ja  damals nichts wert,  nein, ein oder zwei Eier, etwas Mehl, Zucker, Grieß und Fett. Heraus kam ein prächtiger Napfkuchen, und Margot Voigt empfindet ihn bis heute als das schönste Geschenk, das sie jemals bekommen hat.

In der Nachkriegszeit arbeitete Margot Voigt zunächst in der Gärtnerei Mietschke an der Schönfließer und der heutigen Gollanzstraße. Später, als die Russen und danach die Englän­der abgezogen waren, fand sie eine Stelle als Serviererin in ei­nem französischen Kasino. Eines Tages wurde sie von ihrer ehemaligen Klassenkameradin Kati überredet, sich in einer französischen Dienststelle in der Senhei­mer Straße um eine Stelle zu bewerben. Dieses Büro war für Begräbnisse und Um­bettungen auf dem damaligen französischen Friedhof in der Schönfließer Straße zuständig. Eigentlich war Margots Lieb­lings-Fremdsprache das Englische und eigentlich waren die Franzosen anfangs nicht sonderlich be­liebt. „Russen mit Bügel­falten,“ hießen sie im Volksmund. Doch sie fasste sich ein Herz und stellte sich in dem Büro vor. Ein deutscher Sachbe­arbeiter sagte nur: „Setzen Sie sich,“ und verschwand in einem Nebenraum. Dann tauchte ein anderer Mann auf, musterte die junge Frau wortlos und ging. Schließlich kam der Deutsche zurück und sprach die erlösenden Worte: „Sie sind eingestellt.“

Durch ihre Arbeit bei den Franzosen, was übrigens den Ange­stellten in der Zeit der Rationierung die für die Arbeiter ge­dachte Lebensmittelkarte II einbrachte, vervollkommnete Mar­got Voigt ihre Sprachkenntnisse, so dass sie schließlich in der Fremdsprache dachte. „Anders geht es nicht“, meint sie. „Wollte man immer erst aus dem Deutschen übersetzten, könnte man sich niemals fließend unter­halten.“ Und das konnte sie. An die Arbeit im Französischen Wohnungsamt, wo sie bis zu ihrer Pensi­onierung blieb, denkt sie gern zurück. Sie wurde sogar Mitglied des Betriebsrats, des ersten, den es bei den französischen Dienststellen gab. Einmal erhielt sie die Ge­legenheit, eine Reise nach Nizza und Monaco mitzumachen. Die Reise war für Studenten gedacht und recht preiswert. Aber da nicht alle Plätze belegt waren, durften Margot Voigt und ein Kollege mit.

In dem Zusammenhang erinnert sich Margot Voigt an eine kuriose Begebenheit. Beim Grand Prix  von Monte Carlo konnte ihr Begleiter nicht allzu viel sehen und auch nicht die Anzeigetafel. Als er sich bei einem Gendarm nach dem Ergeb­nis des Rennens erkundigen will, schaut der nicht ihn, son­dern Margot Voigt lange durch seine Sonnenbrille an und sagt schließlich: „Sind Sie nicht aus Berlin? Kennen Sie mich nicht mehr?“ „Dann nehmen Sie erst einmal Ihre Sonnenbrille ab!“ Schnell wurde es klar: Es war M. Dupont, ein alter Kunde aus der französischen Dienststelle, dem sie einst eine Woh­nung besorgt hatte. Womit sich wieder einmal bewahrheitet hatte, dass die Welt ein Dorf ist.