Marie-Luise Bechert, Frohnaus unbekannte Organistin
Als Horst Nordmann mit 67 Jahren in Pension ging, hieß es in den Aufsätzen, die sein Wirken als Kantor der Johanneskirche würdigten, sein Dienst habe über 45 Jahre gedauert. Das ist richtig, wenn man sein Einstellungsjahr – also 1934 – und das Jahr seiner Pensionierung – also 1979 – nimmt, aber so ganz stimmt es doch nicht. Gleich zu Anfang des Zweiten Weltkriegs wurde Nordmann eingezogen und im September 1945 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Wer hat ihn in dieser Zeit an der Johanneskirche vertreten?
Es war Marie-Luise Bechert, deren Wirken in Frohnau im Jahre 2006 aus Anlass der 80-Jahr-Feier der Frohnauer Kantorei zum ersten Mal bekannt gemacht wurde. In dem Nachlass Nordmanns fand sich ein handgeschriebener Aushang, der für Sonntag, den 21. September 1941, 18 Uhr, eine kirchenmusikalische Feierstunde ankündigte. Dargeboten wurden Werke von Dietrich Buxtehude, Georg Philipp Telemann und Johann Sebastian Bach. Ausführende waren eine Sopranistin, eine Violinistin, eine Cellistin und eine Organistin, die auch noch Spinett spielte. Ihr Name: Marie-Luise Bechert.
2006 hieß es in der Ausstellung „Achtzig Jahre Kirchenchor Frohnau“ über sie: Marie-Luise Bechert hatte ein besonderes Schicksal. Sie war zunächst Organistin an der Berliner Lazaruskirche. 1935 ging sie ins Münsterland, denn sie, die evangelische Christin, war im Nazi-Jargon „Halbjüdin“, die sich außerhalb der Hauptstadt sicherer fühlte. Nach ihrer Heirat mit dem Tischlermeister Johann Julius Bechert am 13. April 1935 kehrte sie quasi unerkannt nach Berlin zurück und spielte die Orgel an der Johanneskirche. Nach dem Kriege war sie weiterhin kirchenmusikalisch tätig.
Unterdessen findet sich ihre Biographie im Internet. Daraus lässt sich ihr Schicksal etwas genauer rekonstruieren. Geboren wurde sie am 25. Mai 1908 als Marie-Luise Ostersetzer in der Tuchmacher-Stadt Grünberg (heute Zielona Góra). Ihr Vater, Oskar Ostersetzer, ein promovierter Chemiker, war Generaldirektor der Deutschen Wollwaren-Manufaktur Aktiengesellschaft. Er war jüdischer Herkunft, hatte sich aber einen Tag vor seiner Hochzeit protestantisch taufen lassen. Am 20. März 1897 hatte er Gertrud Otto im schlesischen Sagan geheiratet. Seine Kinder Bernhard, Peter, Gertrud und Marie-Luise erzog das Ehepaar im protestantischen Glauben.
Nachdem Marie-Luise das Grünberger Friedrich-Wilhelm Gymnasium bis zur Obersekunda (11. Klasse) besucht hatte, ging sie nach einer mehrjährigen Pause an die Staatliche Hochschule für Musik in Berlin, nahm Unterricht bei dem Domorganisten Walter Fischer und schloss ihr Studium 1930 mit dem großen Kirchenexamen ab. Ihr Schwerpunkt war schon damals die alte Musik. Im gleichen Jahr erhielt sie eine Stelle als Organistin an der Lazaruskirche im Berliner Bezirk Friedrichshain.
Obwohl sie evangelische Christin war, galt sie im NS-Staat entsprechend den „Nürnberger Gesetzen“ als „Mischling ersten Grades“. So wurden damals die deutschen Staatsbürger bezeichnet, die zwei jüdische Großeltern hatten. Daneben gab es die nicht offizielle Bezeichnung „Halbjude“ beziehungsweise „Halbjüdin“. Sie wurde zunächst in der Reichsmusikkammer als „nichtarisches Mitglied“ registriert und 1935 auf der Grundlage der „Durchführungsverordnung des Reichskulturkammergesetzes“ aus dieser Behörde ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam. Ihre Stelle an der Lazaruskirche hatte sie allerdings schon vorher verloren und war mit Julius Bechert, einem Tischlermeister, den sie 1932 kennengelernt hatte, ins Münsterland gezogen. Am 13. April 1935 heirateten die beiden in der westfälischen Stadt Münster.
Da Julius Becher „arischer“ Herkunft war, verlieh die Ehe mit ihm der Organistin einen gewissen Schutz. Wohl wegen dieses Umstands wagten sich die beiden zurück in die Reichshauptstadt. 1937 zogen sie zunächst nach Strausberg und 1938 nach Frohnau, wo sie erst im Zerndorfer Weg und später in der Zeltinger Straße wohnten. Julius Bechert machte in der Chausseestraße recht bald eine Tischlerei auf. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Organistin in dieser Zeit den Frohnauer Kantor Horst Nordmann kennenlernte, für den sie einsprang, als er 1939 in den Krieg ziehen musste. Jedenfalls erhielt sie 1941 eine Vertretungsstelle, die sie bis kurz vor Kriegsende innehatte. Sie gab – wie bereits erwähnt – Kirchenkonzerte und vertrat bisweilen den bekannten Cembalisten und Professor an der Berliner Musikhochschule Fritz Neumeyer in einem Kammermusikkreis.
Ihre Beschäftigung in Frohnau blieb den NS-Behörden keineswegs verborgen. Sie wurde in jener Zeit mehrfach polizeilich vorgeladen, um Auskunft über ihren Vater zu geben, den getauften Christen, der nach NS-Vorstellungen „Volljude“ war. Oskar Ostersetzer war am 21. März 1939 nach England (London) ins Exil gegangen. Mit Hilfe des Roten Kreuzes hatte Marie-Luise Bechert mit ihm einen sporadischen Briefkontakt.
So genannte „Mischlinge ersten Grades“ wurden unterschiedlich behandelt, von der Verdrängung aus ihrem Beruf bis hin zur Einweisung in ein Konzentrationslager. Andere wurden in die Arbeitslager der Organisation Todt abtransportiert, eine nach militärischem Vorbild organisierte Bautruppe, deren Angehörige in schwerer körperlicher Arbeit kriegswichtige Bauvorhaben durchführten. Marie-Luises Geschwister mussten zum Beispiel zeitweise Zwangsarbeit leisten. Wie es der Frohnauer Organistin gelang, ihre Stelle in Frohnau zu behalten, ist nicht ganz klar.
Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee flüchtete sie mit ihren Kindern in einem der letzten Züge, die Berlin verließen, zu ihrer Schwester nach Lübeck, zog dann nach Föhr und schließlich nach Hamburg. Von ihrem Mann hatte sie sich unterdessen getrennt. Sie schlug sich zunächst mit Abendmusiken in verschiedenen norddeutschen Kirchen und durch Beteiligung an Programmen mit Kirchen- und alter Musik beim Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) durch und erhielt 1949 endlich eine feste Anstellung in der Hamburger Kirche St. Katharinen. 1952 nahm sie an Aufnahmen von Kantaten Dietrich Buxtehudes teil, die für die amerikanischen Schallplattenfirmen Lyrichord Discs und Vox in der Kirche St. Pauli Süd hergestellt wurden. Sie starb im Alter von nur 45 Jahren am 16. Dezember 1953 in Hamburg.