Die Stolper Flak

Wer die Kriegszeit in Frohnau und Umgebung verbracht hat und bei Luftangriffen nervös im Keller saß, kann sich an einen bestimmten Kriegslärm besonders erinnern. Da waren nicht nur die üblichen Sirenen, die mit drei langen Tönen den Vor­alarm verkündeten, mit einem ständigen Auf und Ab den Vollalarm und nach einer Ewigkeit die Entwarnung mit einem langen durchgehenden Ton. Da war nicht nur das sonore Brummen der Bombergeschwader und ab und zu das Heulen und die Explosionen von Bomben. Was man hier besonders hörte, war das fast ununterbrochene Flakfeuer. Es kam vom Stolper Feld.

Südlich von Stolpe am Zerndorfer und am Weidenweg gab es zwei Großbatterien und eine Befehlsstelle. Insgesamt waren sechzehn Flakgeschütze (Flugabwehrkanonen), Kaliber 8,8 cm, stationiert, die jeweils mit einem Erdschutzwall umgeben wa­ren. Sie trugen die Bezeichnungen A bis H beziehungsweise Anton bis Heinrich. Außerdem gab es – etwa vierhundert Me­ter von den Geschützen entfernt – einen großen Scheinwerfer mit 200 cm Durchmesser. Zur Befehlsstelle gehörten ein Kommandogerät, das auf optischem Wege auf eine Entfernung von bis zu 8.000 Metern eine genaue Ortung der Flugzeuge vornehmen konnte, ein (äußerst geheimes) mechanisches Re­chengerät und ein Funkmessgerät. Rund um die Flakstellung waren Unterkünfte und kleine Bunker verteilt. Natürlich gab es auch eine Latrine und einen Appellplatz.

Die Geschütze wurden von Soldaten bedient und von Flakhel­fern, genauer gesagt von Jungen der Jahrgänge 1926 bis 1928. Sie wurden nicht wie die wehrpflichtigen Männer „eingezo­gen“, denn sie waren noch nicht volljährig. Die Erziehungsbe­rechtigten erhielten vielmehr einen „Bereitstellungsbefehl zum Luftwaffenhelferdienst“, der sie verpflichtete, ihre Kinder dem Militär zur Verfügung zu stellen.

So erging es auch Wolfgang Meisel aus Hohen Neuendorf. Er war einer der jüngsten LwH’s, also der Luftwaffenhelfer, wie die offizielle Bezeichnung lautete. Sein Geburtsdatum ist der 26. September 1928. Als sein Vater den Bereitstellungsbefehl erhielt, war Wolfgang fünfzehn Jahre alt und gerade einmal 1,57 Meter groß. Er besuchte die 5. Klasse der Weddinger Les­sing-Oberschule. Am 22. Dezember 1943, also kurz vor Weih­nachten, hatte er sich in Tegel zu melden und zwar in einer Stellung, die am Rande des späteren Flugplatzes und damali­gen Schießplatzes lag. Von da aus ging es in die Nähe von Oranienburg und schließlich nach Kirchmöser bei Branden­burg. Dort bediente er mit anderen Flakhelfern einen Flak­scheinwerfer.

Ausgerechnet am 20. Juli 1944, dem Tage des Hitlerattentats, wurde Meisel nach Stolpe versetzt. Bis zu seiner Ankunft in Hohen Neuendorf hatte er keine Ahnung davon, was gesche­hen war. Erst in seinem Heimatort erfuhr er von dem Attentat. Die Nachricht wühlte ihn durchaus auf, doch am Abend hatte er bereits alles verdrängt. Jetzt galt es, sich in seiner neuen Dienststelle einzuleben. Seine Aufgabe war es, die 14 Kilo schweren Granaten zur Zünderstellmaschine zu schleppen und die Zünderlaufzeiten einzustellen. Zu seinem Dienst gehörte aber auch, jeden zweiten Tag am Schulunterricht teilzuneh­men, den jeweils anreisende Lehrer in mehreren Fächern, dar­unter Deutsch, Mathematik und Physik, erteilten.

Die Lehrer hatten Verständnis für ihre Schüler, die in so jun­gen Jahren an gefährlicher Stelle Helden spielen mussten. Wolfgang Meisel erinnert sich da zum Beispiel an seinen Deutschlehrer. Er hatte den Schülern als längerfristige Aufgabe die Lektüre und die Zusammenfassung von Eduard Mörikes „Mozart auf der Reise nach Prag“ aufgegeben. Wolfgang hatte die Sache vor sich her geschoben, weil sie ihm nicht besonders reizvoll erschien. „Es gibt überhaupt keine Handlung in der Novelle,“ erzählt er, „wie soll man da etwas zusammenfassen?“ In einer Deutschstunde sagte der Lehrer den von Alarmen ge­beutelten Knaben: „Wer seine Aufgabe fertig hat, kann sie ab­geben. Ich werde sie mir durchlesen und bewerten. Die ande­ren brauchen sie nicht mehr zu machen.“

In der Flakstellung gab es auch einige Ukrainer, so genannte Hiwis (Hilfswillige). Sie waren in besetzten Ländern rekrutiert worden und leisteten innerhalb der deutschen Wehrmacht Hilfsdienste. Meisel nennt sie arme Schweine, denn sie beka­men sehr wenig zu essen und mussten schwer arbeiten. So ho­ben die Soldaten und Flakhelfer häufig etwas von ihren auch nicht gerade üppigen Brotrationen auf, um es den Hiwis zuzu­stecken.

Der Umstand, dass Meisel in der Nähe seines Elternhauses Dienst tat, hatte einen kleinen, wenn auch nicht ganz unge­fährlichen Vorteil. Als das Getreide hoch stand, konnte man sich nach Dienstschluss davonschleichen und eine oder zwei Stunden zu Hause verbringen, ohne dass es auffiel. Und verra­ten wurde niemand bei den Vorgesetzten. Kurz vor dem Ein­marsch der Russen zeigte es sich, dass der verantwortliche Offi­zier der Stellung nicht zu denen gehörte, die im Angesicht der Niederlage mit Durchhaltebefehlen operierten. Am 15. April 1945 erhielt Wolfgang Meisel einen „Urlaubsschein auf Abruf und Widerruf“, mit dem er sich davonmachen und untertau­chen konnte. Damit war für ihn der Militärdienst zu Ende.

Übrigens hatte man ihn noch im Februar 1945 zum Soldaten gemacht. Man war sich damals dessen bewusst geworden, dass der Status eines Luftwaffenhelfers völkerrechtlich nicht haltbar war. So erhielt Meisel das übliche Soldbuch mit dem Stempel „Flak-v“ hinter dem Wort „Soldat“. Damit war klargestellt, dass er nicht etwa ein Partisan, sondern ein an der Flak eingesetzter Soldat war.

Nach Kriegsende ging der junge Mann weiter zur Schule, stu­dierte und wurde schließlich Elektroingenieur. Auch seine überlebenden Klassenkameraden fühlten sich keineswegs als Angehörige einer „verlorenen Generation“, wie man die Jahr­gänge 1926 bis 1928 oft genannt hat. Sie waren sehr zielstrebig und erreichten in ihrem Leben respektable Positionen.

Lange hatte Wolfgang Meisel seine Kriegserlebnisse verdrängt. Wenn ihn jemand abends beim Bier aufforderte, etwas Lusti­ges aus seiner Zeit als Flakhelfer zu erzählen, schwieg er meist oder sagte, da habe es nichts Lustiges geben, sondern nur Angst ums Überleben. Die Zeit, wo man sich als Held fühlte, war schnell vergangen.

Nach Eintritt in den Ruhestand begann er dann doch, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Heute fällt es ihm leich­ter, über seine Zeit als Flakhelfer zu reden. „Wissen Sie, was aus den Flakbaracken geworden ist?“ fragt er und erklärt: „Sie wurden am Weidenweg abgerissen und in der Hohen Neuen­dorfer Niederheide wieder aufgebaut. Dort dienten sie bis 1984 als Teile einer Schule.“ Seine Frau war übrigens Lehrerin und hat an dieser Schule unterrichtet.

Noch heute kann sich Meisel bis in alle Einzelheiten an die Standorte der Geschütze, der Befehlsstelle und der Baracken­bauten erinnern. „Wo die Holunderbüsche auf dem Feld wachsen, waren die Fundamente der Befehlsstelle 1. Sie nutzen den Kalk dieses Baustoffes für ihr Wachstum. Und dahinten am Weidenweg war ein Teil der Unterkünfte,“ sagt er und zeigt nach Süden.

Zu Hause hebt Wolfgang Meisel einen großen Flaksplitter auf. An ihm kann man noch Reste von Führungsringen erkennen. Er fiel ganz dicht vor ihm zu Boden und hätte ihn um ein Haar erschlagen. Glücklicherweise kam es anders. Das Leben ging weiter. Und nur noch die Älteren unter uns können sich an die Flak auf dem Stolper Feld erinnern.