Weiße Bohnen, Marmelade, Sago
1920 war ein Jahr der politischen und gesellschaftlichen Unruhen. Nach dem rechtsgerichteten, so genannten Kapp-Putsch vom 13. März kommt es in Berlin zum Generalstreik, der in den folgenden Tagen die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung bedroht. Die Preise steigen; im Zentralviehhof verendet ein Teil des Viehbestands wegen mangelnder Fütterung. Nach fünf Tagen bricht der Putsch zusammen und Wolfgang Kapp flieht nach Schweden. Am 23. März werden die Geschäfte wieder geöffnet und die Lage normalisiert sich, wenn man das so nennen kann.
Am 3. April veröffentlichte die Hermsdorf-Waidmannsluster Frohnau-Glienicker Zeitung unter der Überschrift „Weiße Bohnen, Marmelade, Sago“ eine Bekanntmachung des Lübarser Gemeindevorstehers vom 1. April 1920: „Es werden ausgegeben
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auf Abschnitt 13 der örtlichen Lebensmittelkarte ½ Pfund weiße Bohnen zu 2,10 M
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auf die Abschnitte 12 und 13 der allgemeinen Groß-Berliner Lebensmittelkarte zusammen 1 Pfund Marmelade, Pfd. 3,70 M
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auf Abschnitt 15 der allgemeinen Groß-Berliner Lebensmittelkarte 125 Gramm Sago zu 40 Pf. oder 125 Gramm Haferflocken zu 23 Pf.
Die Anmeldeabschnitte sind bis Mittwoch, den 7. April, in den Lebensmittelgeschäften abzugeben. Die Geschäftsleute haben die Abschnitte am Donnerstag, den 8. d. Mts, im Lebensmittelbüro abzuliefern.“
An Lebensmittelkarten war man aus Kriegszeiten gewöhnt. Es hatte 1915 mit der Brotrationierung begonnen, später kamen Milch, Fett, Eier und andere Nahrungsmittel hinzu. Kartoffeln wurden ab Frühjahr 1916 rationiert. Im „Kohlrübenwinter“ von 1916/17 kam es gar zu einer Hungersnot im Deutschen Reich; viele der ausgegebenen Lebensmittelkarten blieben Makulatur. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Lebensmittelrationierung nur langsam abgebaut. Hunger war weit verbreitet, viele Menschen, besonders Kinder, starben an Unterernährung und an Krankheiten, die durch die schlechte Versorgung hervorgerufen wurden.
Interessant an der Meldung der Regionalzeitung ist vielleicht, dass die Lübarser Bürger zwei Lebensmittelkarten hatten, die örtliche und die Groß-Berliner. Das ist wohl damit zu erklären, dass es schon seit 1911 einen „Zweckverband Groß-Berlin“ gab. Allerdings hatte dieser Verband nur geringe Kompetenzen. Das Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin, kurz Groß-Berlin-Gesetz, wurde erst am 27. April vom Preußischen Landtag beschlossen. Am 1. Oktober des gleichen Jahres trat es in Kraft. Immerhin wurde in der „Hermsdorf-Waidmannsluster Frohnau-Glienicker Zeitung“ vom 3. April 1920 schon der Ausdruck „die Städte Groß-Berlins“ gebraucht. Und schon vor der Eingemeindung der Vororte regte die Stadt Berlin zum Beispiel an, die Gemeindesteuer in den noch nicht zur Hauptstadt gehörenden Gemeinden zu erhöhen.
In Frohnau ging in der Übergangszeit die Sorge um, es könne als abgelegenes Anhängsel der Großstadt vernachlässigt werden. Man hatte bei der Auflösung der Gutsbezirke gehofft, dass die Gartenstadt mit ihren etwa 1500 Einwohnern eine selbstständige Gemeinde werden würde. Im ursprünglichen Entwurf des Groß-Berlin-Gesetzes war die Einbeziehung Frohnaus nicht vorgesehen. Nachdem Regierungsvertreter Frohnau einen Besuch abgestattet hatten, wurde das Gesetz allerdings geändert und Frohnau in den Großstadtverband einbezogen. Aller Protest der Gartenstädter half nichts. Und das in einer Zeit der Not und einer von den hiesigen Einwohnern abgelehnten linksgerichteten Stadt- und Bezirksregierung.
In der erwähnten Zeitung warnte ein Reinickendorfer Samenhändler in einer Annonce: „Sorgen Sie beizeiten für die Frühjahrsaussaat, da große Knappheit und Preiserhöhung bevorsteht.“ Außerdem wird als Düngemittel „Dramfelder Kalk“ angeboten. Die Frohnauer waren in dieser Hinsicht gut dran; die meisten hatten Gärten. In denen verschwanden die Blumenbeete und Rasenflächen und machten Kartoffel- und Gemüsebeeten Platz. Fast auf jedem Grundstück wurden Hühner, Kaninchen und sogar Ziegen und Schafe gehalten. Daneben gab es Enten, Gänse und zuweilen Schweine und Kühe. Ein Hirte trieb täglich bis zu 120 Ziegen zum Poloplatz. So werden in der Zeitung nicht nur Samen angeboten, sondern auch Milchziegen und Mutterlämmer. Schlachtziegen und Bocklämmer könnten in Zahlung gegeben werden.
Doch noch andere Unbill erschwerte in jener Zeit das Leben der Bürger. In der Zeitung wurde von Missständen auf den Vorortstrecken der Bahn berichtet. Der „Verein der Vororte Berlins“ beklagte sich beim Eisenbahndirektionspräsidenten Wulff über das schlechte Wagenmaterial. Da die Heizung fehle, seien die Wagons feucht, wodurch die Fensterrahmen gequollen und die Fenster kaum oder gar nicht schließbar seien. Der Reichsbahndirektionspräsident verwies in seiner Antwort unter anderem darauf, dass der „gänzliche Mangel an Glas“ eine sofortige Reparatur zerbrochener Scheiben unmöglich mache. Aber immerhin habe es beim „pünktlichen Innehalten der Abfahrts- und Ankunftszeiten“ eine Besserung gegeben.
Unter der Überschrift „Wieder ein Nordbahnzug beschossen“ berichtete die Zeitung an anderer Stelle, dass in der Nähe der Millionenbrücke in Gesundbrunnen, wo kurz zuvor der Lokomotivführer Reichmuth tödlich getroffen worden war, wieder ein Vorortzug unter Beschuss geraten sei. Ein Geschoss habe zwei Fensterscheiben eines Abteils der dritten Klasse zertrümmert. Obwohl das Abteil überfüllt gewesen sei, habe es keine Verletzten gegeben. Angesichts dieser Bedrohung der Fahrgäste und des Personals schrieb die Zeitung: „Im Interesse der Sicherheit unserer Nordbahnstrecke muß energisch schärfste Bewachung verlangt werden.“
Von den großen Unruhen ist nur am Rande die Rede. So wird der Kapp-Putsch in einen ganz unerwarteten Zusammenhang gestellt. Unter der Überschrift „Staatsstreiche gegen die deutsche Sprache“ beklagt ein ungenannter Verfasser Gedankenlosigkeit und Schlamperei beim Gebrauch der Muttersprache. Er schreibt: „Zu dem Staatsstreich der Kapp-Leute hat uns diese aufgeregte Zeit noch etwas Übles beschert: die Staatsstreichler.“ Diesen Ausdruck hätten zum Beispiel Reichspräsident Ebert und die Frankfurter Zeitung gebraucht. Zu Recht fragt der Verfasser, was das wohl sei. Doch nicht etwa jemand, der den Staat streichele? Auch andere Sprachschlampereien seien anfechtbar, „vom ‚letzten Ende’ über den ‚toten Punkt’ bis zum falschen Gebrauch von ‚trotzdem’.“ Er sei noch heilfroh, dass der „umfassende Angriff der ‚Ortografi-Ferbesserer’“ abgeschlagen worden sei.
Ostern war in jenem Jahr am 4. und 5. April. Trotz oder gerade wegen der schweren Zeit wollte man sich auch vergnügen. Das Waidmannsluster „Bergschloß-Etablissement“ lud für den 1. Feiertag zum 1. Stiftungsfest des Lotterie-Vereins „Viel Glück“ ein. Es sollte ein Konzert und humoristische Vorträge geben. Für den zweiten Feiertag wird ein „Großer Festball“ angekündigt. Auf dem Hermsdorfer Fußballplatz am Waldsee spielten am Ostersonntag der V.f.B. Hermsdorf gegen Eintracht-Oranien sowie Eintracht Borussia gegen Merkur 93. Das „Casino Frohnau“ warb mit guter Küche und soliden Preisen. Außerdem verwies der „Oekonom“ Fritz Mechelke auf die traditionellen Künstler-Konzerte, die schon seit 1910 jeden Donnerstag und Sonntag im Casino stattfanden.
Im Jahr 1920 wurde die Gartenstadt zehn Jahre alt. Viel Grund zum Feiern gab es nicht. Was damals noch keiner wusste, war, dass die Zeiten noch erheblich schlimmer werden sollten, und das wegen der bevorstehenden Hyperinflation. Vom 1. Januar 1920 bis zum 20. November 1923 stieg der Dollarkurs rasant und damit die Abwertung der Papiermark. Der Dollar kostete zuletzt 4,2 Billionen Mark. Die deutsche Wirtschaft brach zusammen und die Arbeitslosigkeit stieg. Mit der Einführung der Rentenmark am 20. November 1923 wurde die Inflation beendet. Zwölf Nullen wurden gestrichen; aus einer Billion Papiermark wurde eine Rentenmark. Doch es dauerte bis 1928, bis die Reallöhne wieder das Niveau von 1913 erreichten. Ein großer Teil der Mittelschichten verarmte. So ist es nicht verwunderlich, dass in Frohnau schon 1920 eine große Villa mit 13 Zimmern, Park und Obstgarten zu verkaufen war.