Bernhard Etté: Einst umjubelt – heute vergessen

Am 9. Februar 2013 strahlte der Sender Dreisat einen Filmklassiker aus dem Jahre 1927 aus. Er trug den Titel: „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt”. In ihm tauchte der Name Bernhard Etté in einer Leuchtre­klame auf, nur ganz kurz, aber er entging mir nicht. Von ihm habe ich meinen zwei­ten Vornamen Bernhard, denn er war mein Patenonkel. Allerdings kam er nur sehr selten nach Frohnau, und umgekehrt besuchten wir ihn in seiner Schöneberger Wohnung vielleicht ein- oder zweimal. Er hatte eine Cousine meiner Mutter geheiratet, doch die war nur eine von den fünf Frauen, mit denen mein Patenonkel im Laufe seines bewegten Lebens den „Bund fürs Leben” schloss. So verschwand der be­rühmte Kapellmeister ziemlich bald aus dem Kreise meiner Familie.

Was die Leuchtreklame betrifft, so zeugt sie in ihrer Wortkargheit davon, dass mein Patenonkel offenbar gut bekannt war. Seine Musik wurde schon früh von der Firma „Vox-Schallplatten-und Sprechmaschinen-AG” verbreitet. Offenbar war sich „Vox” der Zugkraft des Namens Bernhard Etté bewusst und legte Wert darauf, dass man mit dem Namen des Kapellmeisters den der Firma verband. Zum Markenzeichen im Stil der Art Déco gehörte der stilisierte Kopf eines Schwarzamerikaners, der die Buchstaben V (Mund), O (Auge) und – zumindest andeutungsweise – X (Frisur) enthielt. Außerdem stand dieses Markenzeichen für den in den zwanziger Jahren beliebten „Neger-Jazz”.

Bernhard Etté wurde am 13. September 1898 in Kassel als Sohn eines Friseurs geboren. Seine Geburt ist sogar in der Online-Chronik der Stadt vermerkt. Es heißt dort unter dem entsprechenden Datum: „Der in den zwanziger Jahren berühmte Musiker, ‚König der Tanzmusik’, Bernhard Etté, wird in Kassel geboren.” Als er sieben Jahre alt war, bekam er eine Geige geschenkt. Dieses Geschenk wurde für sein weiteres Leben bestimmend. Eigentlich sollte er Volksschullehrer werden. So besuchte er ein Lehrerseminar, wo er seine Violine gut gebrauchen konnte, denn in der Volksschule gab der Lehrer meist auch Musikunterricht. Doch dann entdeckte er, dass er lieber Musiker als Lehrer werden wollte.

So trat Etté, inzwischen siebzehnjährig, als Teil eines Trios mit seiner Geige in einer Kasseler Weinstube auf, um das Geld fürs Konservatorium zusammen zu bekommen. Nach Abschluss seiner Ausbildung ging er nach Garmisch, wo er ein Jazz-Orchester leitete. Dort hörte ihn ein Bankier aus Berlin, der in Garmisch zur Kur war, und überredete ihn, von der Provinz in die Hauptstadt zu wechseln.

Etté folgte seinem Rat. In Berlin, das mit seinen zahlreichen Kultur- und Vergnügungsstätten vor Leben nur so strotzte, übernahm er mit gerade einmal 25 Jahren die Leitung des „Boston-Club Tanzorchesters”. Die Begeisterung für den „Boston”, eine Art langsamer Walzer, war An­fang des 20. Jahrhunderts von den USA nach Europa übergeschwappt. Auch in Berlin war das Boston-Tanzen bekannt und beliebt. Der 1911 ge­gründete „Boston-Club” gehörte zu den ersten in Deutschland gegründeten Tanzsport­clubs in Deutschland. Mit seinem Tanzorchester trat Etté übri­gens in den „besten” Häusern auf, so zum Beispiel im „Adlon”, im „Excelsior” und im „Bristol”. Au­ßerdem nahm er schon Sendungen für den Rundfunk auf, als dieser noch in den Kinderschuhen steckte. Fünfmal reiste er nach Amerika und wurde in New York und Chicago stürmisch gefeiert. Von dort brachte er die neueste Tanzmusik nach Deutschland mit.

Im „Boston-Club Tanzorchester” spielte eine Reihe von bekannten Musikern, darunter Franz Grothe, der Berliner Komponist vieler Schlager und Filmmusiken. Grothe wurde berühmt, als er für den Tenor Richard Tauber viele Lieder komponierte. Ältere Mitbürger werden ihn aus der Unterhaltungssendung „Zum Blauen Bock” kennen, wo er als Dirigent und Komponist mitwirkte. Auch der heute weniger bekannte Berliner Gitarrist und Banjospieler Rudi Anhang spielte zeitweise in Bernhard Ettés Orche­ster. Der Kapellmeister ging übrigens ein Wagnis ein, als er den jüdischen Musiker zunächst weiter beschäftigte, nachdem dieser im NS-Staat wie alle Juden mit einem Berufsverbot be­legt worden war.

Doch Etté war wohl eher Opportunist als Men­schenfreund. Das Musizieren ging ihm über alles. Als ihm der NS-Staat die Gelegenheit bot, seine Kapellmeisterkarriere fortzusetzen und sogar auszu­weiten, griff er zu. Im ersten Jahr des Zweiten Welt­kriegs trat er mit seinem großen Schauorchester vor Solda­ten und Verwundeten bei einer Veranstaltung auf, die von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) organisiert worden war. Auf dem Programm stand auch eins der Lieder, die sich im damals großer Beliebtheit er­freuten, nämlich „Bomben auf Engeland”. Eine Woche nach dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 spielte Ettés Orchester – zumindest einem erhaltenen Befehl des SS-Obersturmbannführers und zeitweiligen KZ-Kommandanten Rudolf Höß zufolge – für das Personal im Konzentrationslager Auschwitz.

Während der NS-Zeit leitete Bernhard Etté die „Turnierkapelle des Reichssportverbandes für den Tanzsport”. Für diese Betätigung hatte er ja schon als Leiter des „Boston-Club Tanzorchesters" genü­gend Erfahrung gesammelt. Sein Einsatz ging so weit, dass er bei allen Tanzturnier-Veranstaltun­gen den Taktstock schwang. Dabei pflegte er die von der „Reichskulturkammer” erwünschte „neue deutsche Tanzmusik”, in der die Geige wieder mehr Bedeutung bekam, das Banjo durch die Gi­tarre ersetzt und das Blech zurückgedrängt wurde.

Am 20. September 1947 fand sich im Magazin „Der Spiegel” unter der Rubrik „Personalien" eine etwas merkwürdige Meldung über Bernhard Etté – merkwürdig in zweierlei Hinsicht. Erstens hat der „Spiegel” vorausgesetzt, dass Etté seinen Lesern bekannt ist, denn er wird auf keinerlei Weise vorgestellt, und zweitens scheint der Kapellmeister so sehr in seiner Musikwelt versunken gewesen zu sein, dass er – angeblich – eine wichtige Tatsache vergessen hatte. Die Meldung besteht aus drei Sätzen und lautet: „Bernhard Ette ist vor die Berliner Entnazifizierungskammer für Kulturschaffende zitiert worden, weil er Mitglied der NSDAP war. Herr Ette ist über die Vorladung sehr erstaunt. Er gibt an, von seiner Mitgliedschaft nichts gewußt zu haben.”

In der Nachkriegszeit war die eher zahme „neue deutsche Tanzmusik” kaum noch gefragt. Die Jugend begeisterte sich für Rock’n’Roll und Beat. Und es waren jüngere Orchester wie die der Band­leader Hugo Strasser oder Max Greger, die jetzt für gepflegte Tanzmusik sorgten. Nach und nach schwand die Beliebtheit des einst so populären Kapellmeisters. Jetzt trat er unter anderem in der sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise in der DDR auf. Am 2. April 1957 meldete die „Leipziger Volkszeitung”, das „weltbekannte Schauorchester Bernhard Etté” habe bei der Eröffnung des „Aeros-Groß-Varietés” auf­gespielt. Danach hörte man nicht mehr viel von ihm. Am 26. September 1973 starb er völlig verarmt im bayerischen Mühldorf am Inn.

Heute ist Bernhard Etté weitgehend vergessen. Nicht so in seiner Geburtsstadt Kassel. Im Veranstaltungskalender der „Hessischen/Niedersächsischen All­gemeinen” war zu lesen, dass am Sonntag, dem 28. April 2013, ein bunter Abend über Bernhard Etté im Bürgerhaus Philippinenhof-Warteberg im Kasseler Philippinenhöfer Weg veranstaltet wird. Und am 17. März 2012 spielte das „ResiDance Orchester Cassel” in der „Kunst­werk­statt” laut Programm Salonmusik von eben jenem Herrn Etté.