Die Albrechts: Eine weitere Frohnauer Familie aus Niederschönhausen

Im März 1967 war im „Nord-Berliner” zu lesen, dass Dr. Hans Albrecht, seine Ehefrau und sein Sohn von einer wissenschaftlichen Expedition nach Berlin zurückgekehrt seien. Beide Eheleute waren Ärzte, und die Expedition diente dem Zweck, durch empirische Studien herauszufinden, wie leistungsfähig der menschliche Körper in großer Höhe ist. Dazu hatten sie den im argentinisch-chilenischen Grenzgebiet gelegenen Cerro Aconcagua bestiegen, der mit seinen 6962 Metern nicht nur der höchste Berg Südamerikas ist, sondern auch der höchste Berg außerhalb Asiens. Als Versuchspersonen nahmen unter anderem siebzig Angehörige der chilenischen Armee teil, deren Körperfunktionen in einer Höhe von 6000 Metern untersucht wurden.

An den Ergebnissen waren nicht nur die Sportärzte interessiert, die die deutschen Sportler zur XIX. Olympiade (1968) von Mexiko-Stadt begleiten sollten. Bekanntlich liegt Mexikos Hauptstadt in einer Höhe von durchschnittlich 2.300 Metern über dem Meeresspiegel, was besondere Anforderungen an die Athleten stellte. Auch die Mediziner der amerikanischen Weltraumbehörde NASA zeigten großes Interesse und luden die Albrechts ein, in den USA ihre Forschungsergebnisse vorzustellen.

Diese Expedition hatte natürlich ihre Vorgeschichte. Dr. Albrechts Spezialgebiet waren Stresskrankheiten wie das Burnout-Syndrom und psychovegetative Erschöpfungszustände, die er mit Vitamin-Mineralstoff-Infusionen, Anabolika und anderen Mitteln mit stimulierender Wirkung behandelte. Für die Firma Schering forschte er auf dem Gebiet der Höhenakklimatisation und Leistungssteigerung durch Anabolika. Im Jahre 1965 hatte er bereits eine höhenmedizinische Expedition zum Aconcagua durchgeführt, bei der er durch verschiedene Firmen und den Staat Argentinien unterstützt worden war.

Das Forschungsprogramm von 1967 war noch umfangreicher und ausgefeilter. Mehrere tausend Briefe waren verschickt worden, um Kontakte zu verschiedenen Universitäten, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Arzneimittelherstellern, der Lufthansa und der Reederei Hamburg Süd herzustellen und die Finanzierung, die Ausrüstung und den Transport sicherzustellen. An dem Aufbau eines transportablen isolierten Labors waren zehn Wissenschaftler aus ganz Deutschland beteiligt. Auf der politischen Ebene wirkten Willy Brandt (damals Bundesaußenminister) und der argentinische Staatspräsident Onganía mit.

Hans Albrecht wurde am 27. August 1922 in Berlin geboren. Als er 13 Jahre alt war, zog die Familie nach Niederschönhausen. Im Jahr 1935 hatte nämlich sein Vater Johannes Albrecht die Villa eines gewissen Hermann Fromm gekauft, eines Polizeirates, der sich das stattliche Domizil in der Kronprinzenstraße 26 (später Majakowskiring 60) Anfang des 20. Jahrhunderts hatte bauen lassen. In der Jugend tat sich Hans Albrecht weniger auf sportlichem als auf musischem Gebiet hervor. Schon mit zwölf Jahren trat er als Akkordeonvirtuose im Radio auf. In der Schule hatte er als weitaus Bester sogar eine Bildungsreise nach Griechenland als besondere Auszeichnung erhalten. Sein Medizinstudium absolvierte er in Kiel, wo er übrigens seine spätere Frau in der Anatomie kennenlernte, in der die angehenden Ärzte eine Leiche zu sezieren hatten.

Nach Frohnau zog das Arztehepaar im Jahre 1951. Hans Albrecht hatte in der Kinderklinik (Zeltinger Straße 44) eine Stelle bekommen, wo er bald zum Oberarzt avancierte. Seine Frau beendete ihr Medizinstudium in Berlin und arbeitete dann an einer Klinik als Assistentin. Noch in Schleswig-Holstein war am 28. Januar 1948 ihr Sohn Hans-Joachim geboren worden, der nun als Dreijähriger mit seinen Eltern in die Zeltinger Straße 55 unweit der Kinderklinik übersiedelte. Von ihm wird noch die Rede sein. Die Praxis, die seine Eltern in der Mehringer Straße 14-16 einrichteten, war nur an den Wochenenden geöffnet, denn ihre Hauptpraxis war am Wedding. Zwar arbeiteten die beiden Mediziner ausschließlich als Privatärzte, doch schickten sie auch weniger begüterte Patienten nicht fort, sondern fanden für sie stets eine bezahlbare Lösung.

Seinen Ruhestand verbrachte Dr. Hans Albrecht in Österreich in seinen geliebten Bergen. Er kaufte sich in der Nähe von Taupitz (steirisches Salzkammergut) in dem Flecken Wörschachwald ein Haus in 1100 Metern Höhe. Von dort hatte er einen wunderbaren Blick auf den 2351 Meter hohen Grimming. Er verbrachte viel Zeit damit, seine zahlreichen Foto- und Filmaufnahmen, die sein Leben und seine Arbeit dokumentierten, elektronisch zu bearbeiten und zu archivieren. Am 30. August 2008 starb er in seinem Haus in Wörschachwald im Beisein seiner drei Söhne.

Übrigens hatte er am 15. Februar 2000 einem alten Frohnauer Bekannten einen Brief geschrieben, in dem er drei Erinnerungen aufzählt. Die erste betraf die Jugend des Bekannten, der frühmorgens um vier mit seinem Motorrad „und Begleitung” – natürlich auf dem Bürgersteig – nach Hause „donnerte”. Die zweite bezieht sich auf die Soldatenzeit, als der Bekannte „vor dem Sturm auf Stalingrad in einer Schlucht bei Atamosk vor uns Soldaten” ein Konzert gab. Die dritte schließlich ist die Erinnerung an die Konzerte, mit denen er und seine Band im Café Frohnau die zahlreichen Gäste unterhielt. Und wer war der Frohnauer Bekannte? Natürlich Geo Arand, über den die „Frohnauer Geschichten” (Band 4) ausführlich berichteten.

Sein Sohn Hans-Joachim verlebte seine Jugend also in Frohnau. Zunächst besuchte er die Evangelische Grundschule und wechselte dann in die Humboldt-Oberschule in Tegel. Kurz vor dem Abitur erhielt er vom Senator für Schulwesen Sonderurlaub, damit er seine Eltern auf der Forschungsreise nach Südamerika begleiten konnte. Im Juni 1967 konnte er dann das Abitur nachholen, das seinerzeit eigentlich im Frühjahr abgelegt wurde. Nicht unerwartet trat er in die Fußstapfen seines Vaters und begann ein Medizinstudium, das er bis zum Physikum an der Berliner Freien Universität absolvierte. Im Januar 1968 berichtete der Medizinstudent Albrecht übrigens an der Humboldt-Schule von der Expedition, wobei seine ehemalige Musiklehrerin Traute Kunert den Dia- und Filmvortrag musikalisch untermalte.

Danach ging es zurück in den Norden, zunächst für ein Dreivierteljahr in seinen Geburtsort Gut Krieseby an der Schlei zur Großmutter und dann nach Kiel, wo er an der dortigen Universität sein Staatsexamen ablegte. Seine Doktorarbeit befasste sich mit einem Thema, das ihm zwar nicht in die Wiege gelegt worden war, ihm aber doch durch das Spezialgebiet seiner Eltern gewissermaßen ans Herz gewachsen war: Die medikamentöse Beeinflussung der Höhenakklimatisation.

Etwas anderes aber war ihm in die Wiege gelegt worden, nämlich die musikalische Begabung, die er wohl von seinem Vater geerbt hatte. Mit neun Jahren begann er, die Violine zu spielen, bestand nach drei Jahren die Aufnahmeprüfung in die Klasse seines Musiklehrers Professor Michel am Konservatorium der Musikhochschule in Berlin. Noch heute wirkt er als Geiger in verschiedenen Quartetten und Orchestern mit – zum Ausgleich zu seinem Beruf und zur Pflege seiner Freundschaften.

An seinen Großvater Johannes Albrecht erinnert sich Dr. Albrecht noch recht gut. Er nannte ihn Opa Bimbam, und das hatte natürlich seinen besonderen Grund. Opa Bimbam war sehr erfinderisch und voller witziger Einfälle. Er hängte große Silberlöffel an Schnüre, deren Enden er dem Enkel an die Ohren hielt. Wenn die Löffel aneinander schlugen, so klangen sie für den kleinen Hans-Joachim wie Glocken. Und seine erwachsenen Gäste foppte er, indem er sich ans Klavier setzte, ihnen etwas vorspielte, dann plötzlich aufstand, und das Klavier ohne ihn weiter spielte. Tja, es war eben ein automatisches Klavier, das durch einen gelochten Papierstreifen gesteuert wurde.

Aber Johannes Albrecht war nicht nur als Spaßmacher, sondern auch als Geschäftsmann einfallsreich. Den Grundstock zu seinem Vermögen, das ihm 1935 den Kauf der Villa in Niederschönhausen ermöglichte, hatte er dadurch gelegt, dass er in einem strengen Winter eingefrorene ostpreußische Kartoffelmieten aufkaufte. Er war mit einem mit Holz beladenen Güterzug nach Ostpreußen gefahren, hatte dort die Mieten aufgetaut und sie in den geheizten Waggons nach Berlin geschafft, wo er seine Ware reißend losgeworden war. Später nutzte er seine Beziehungen zu einem Bankier, dem er einst aus der Bredouille geholfen hatte, und spekulierte, unterstützt durch wertvolle Tipps dieses Mannes, sehr erfolgreich an der Börse.

So konnte er es sich leisten, seinen Kartoffelgroßhandel in Berlin-Mitte aufzugeben und ab 1938 in Niederschönhausen als Privatier zu leben. Der Grund war allerdings nicht etwa sein Ruhebedürfnis. Vielmehr war er kein Freund der Nazis und weigerte sich, in eine ihrer Parteiorganisationen einzutreten, was sich als ziemlich geschäftsschädigend erweisen sollte. In seinem Garten baute sich Johannes Albrecht ein „Treibhausschwimmbad”, also ein Schwimmbecken, das in der kalten Jahreszeit als Treibhaus diente und wo er Blumen und bestimmte Gemüsesorten züchtete.

Doch auf die Dauer wollten die Nazis auf die besonderen Fähigkeiten des gelernten Gärtners und begnadeten Improvisators nicht verzichten. 1943 übertrugen sie ihm die Organisation und den Vertrieb im Fruchthof Wedding. Nach dem Einmarsch der Russen in Pankow und der Bildung des Bezirksmagistrats erhielt Johannes Albrecht die Position eines Gartenbauamtsleiters, der in der Folge so erfolgreich wirtschaftete, dass sein Zuständigkeitsbereich schließlich die Hälfte des Berliner Gemüses produzierte. Für den Gemüseanbau ließ er Freiflächen wie Tennisplätze und Parkanlagen nicht etwa umgraben, sondern mit Mutterboden bedecken, sodass sie später ohne große Schwierigkeiten in ihren ursprünglichen Zustand zurück versetzt werden konnten.

Zu den Höhepunkten seines Schaffens in der Nachkriegszeit gehörte sicher der Auftrag, an der von den Nazis und den Kriegsereignissen arg mitgenommenen ehemaligen Prachtstraße Unter den Linden neue Bäume zu pflanzen. Zunächst durfte Johannes Albrecht wegen seiner wichtigen Position als Gartenbauamtsleiter in seinem Haus bleiben. Allerdings nur bis Ende 1947. Dann musste er in das im Bürgerpark gelegene so genannte Herrenhaus der Familie Killich von Horn umziehen. Zu den im Sperrgebiet wohnenden Russen hatte er einen guten Kontakt, denn zu seinen besonderen Fähigkeiten gehörte auch die Kenntnis der russischen Sprache. Er hatte einen Prospusk (Passierschein), der es ihm erlaubte, das dem Normalbürger unzugängliche „Städtchen” in Niederschönhausen jederzeit zu betreten.

Er starb am 14. September 1951 im Alter von 64 Jahren. Und was verbindet ihn mit Frohnau? Das ist erst einmal seine Nachkommenschaft, die sich in der Gartenstadt ansiedelte. Außerdem war er ein leidenschaftlicher Reiter. Und wo waren seine Pferde untergebracht? Nun, natürlich am Poloplatz in Frohnau.