Fritz Heyner und der Schienenzeppelin
Am 21. Juni 1931 um 3.27 Uhr in der Frühe verließ ein merkwürdiges Fahrzeug den Bahnhof Hamburg-Bergedorf, um sich auf den Weg nach Berlin zu machen. Es fuhr auf Schienen, hatte aber große Ähnlichkeit mit einem Luftschiff. Angetrieben wurde es von einem Propeller, der am Heck des ungewöhnlichen Gefährts angebracht war. Es wurde von seinem Erfinder Franz Kruckenberg Flugbahnwagen genannt. Der Volksmund sprach vom Schienenzeppelin. Zunächst verwendete man einen Propeller mit vier Blättern, doch dann erschien für die hohen Drehzahlen bei den Schnellfahrten ein Propeller mit nur zwei Blättern geeigneter. Die Propeller waren aus Eschenholz und wurden von der Firma Hugo Heine in Waidmannslust hergestellt.
An Bord des Flugbahnwagens waren drei Männer, außer dem Erfinder noch die Konstrukteure Curt Stedefeld und Willy Black. Einer bediente den Gashebel, der zweite las die Ziffern der vorbeiflitzenden Kilometersteine vor und der dritte errechnete aus dem Quotienten von Weg und Zeit die Geschwindigkeit. Der Name Schienenzeppelin war so abwegig nicht, denn einmal war die Ähnlichkeit zwischen einem Luftschiff und dem Flugbahnwagen frappierend, und zum zweiten hatte Franz Kruckenberg als Konstrukteur von Luftschiffen gearbeitet, was ihm nach dem Ersten Weltkrieg durch den Versailler Vertrag allerdings unmöglich gemacht wurde.
Franz Kruckenberg wollte beweisen, dass ein Leichtbaufahrzeug auf Schienen wirtschaftliche Schnellfahrten ausführen könne. Der Flugbahnwagen hatte ähnlich wie ein Luftschiff Spanten aus Aluminium, die mit feuerfest imprägniertem Segeltuch überspannt wurden. Bei einer Länge von 25,85 Metern hatte der Wagen ein Gewicht von 18,6 Tonnen. Er war in einer Halle des (Reichsbahn-)Ausbesserungswerks in Leinhausen bei Hannover aufgebaut worden und begann seine versuchsweisen Schnellfahrten im September 1930.
Angetrieben wurde er von einem 12-Zylinder BMW-Flugmotor, der bei Vollgas und 1460 Umdrehungen pro Minute eine Leistung von 600 PS erbrachte. Auf seiner Fahrt von Hamburg nach Berlin erreichte der Schienenzeppelin eine Höchstgeschwindigkeit von 230 Stundenkilometern, was einen Rekord darstellte, der 24 Jahre nicht überboten wurde. Nach einer Fahrt von 257 Kilometern traf er um 5.05 Uhr, also nach 98 Minuten, an seinen Zielbahnhof Berlin-Spandau (West) ein. Das bedeutete eine beachtliche Durchschnittsgeschwindigkeit von ungefähr 160 Stundenkilometern. Manche Quellen sprechen übrigens vom Lehrter Bahnhof als Berliner Ziel, doch das scheint eine Verwechselung mit dem Endbahnhof des Fliegenden Hamburgers zu sein.
Kruckenberg hatte sich vorgestellt, dass eine Reihe von seinen Flugbahnwagen in kürzeren Abständen eine Schnellbahnstrecke bedienen sollten, doch stieß er mit seinen Plänen auf wenig Gegenliebe bei der Reichsbahn. Zu deren Einwänden gehörten neben der Überlegung, dass der Schnellbahnwagen sich seine Strecke schwerlich mit anderen Zügen teilen konnte, auch allerlei Sicherheitsbedenken. Diese führten zum Beispiel dazu, dass bei den Schnellfahrten die Schranken an den Bahnübergängen schon eine halbe Stunde vor der Vorbeifahrt des Wagens geschlossen wurden. So kam es angesichts der Bedenken, dass der Schienenzeppelin trotz einiger Umbauten und Verbesserungen in einer Halle des RAW Tempelhof abgestellt und 1939 schließlich verschrottet wurde.
Doch was hat Fritz Heyner mit alledem zu tun? Immerhin stand er auf zwei überlieferten Fotos neben den Konstrukteuren Kruckenberg, Stedefeld und Black, einmal an der Station „Rennbahn-Stadion Grunewald” (heute Olympiastadion), und einmal an der Station Dollbergen (nahe Hannover), und das jedes Mal mit dem Flugbahnwagen im Hintergrund. Nun, die Antwort ist leicht. Zwar gehörte der Diplomingenieur Fritz Heyner bei der Rekordfahrt nicht zu den Fahrgästen, doch an der Konstruktion des Gefährts hatte er entscheidenden Anteil. Und außerdem liebte er es zu filmen, was man besser von der Strecke aus konnte. Von ihm sind eine Reihe von Filmen überliefert, die die Schnellfahrten dokumentieren und die von der Deutschen Bahn bearbeitet und ins Videoformat kopiert wurden.
Was seinen Anteil an der Konstruktion des Flugbahnwagens betrifft, so zeugen davon seine Patente, die der Diplomingenieur in Deutschland und in Amerika angemeldet hatte. Im Internet sind eine Reihe von ihnen zu finden, darunter eine selbsttätige Eisenbahnsignalanlage, ein Eisenbahnwagenkörper, ein Eisenbahntriebwagen für hohe Geschwindigkeiten und ein stromlinienförmiges Kopfteil mit zurückliegendem Führerstandsaufbau für Triebwagen mit hohen Geschwindigkeiten – letzteres mit Franz Kruckenberg.
Fritz Heyner (eigentlich Friedrich) wurde am 7. Dezember 1899 in Brand bei Zwickau geboren. Kurz nach seinem (Not-)Abitur, das er 1917 an der Hanauer Oberrealschule mit „sehr gut" bestand, meldete sich zum freiwilligen Kriegsdienst. Er diente beim Eisenbahn-Pionier-Regiment 2, machte einen Offizierskurs beim Pionier-Regiment 3, wurde zunächst an der Ostfront und im Februar 1918 in Belgien und Nordfrankreich eingesetzt. Nach der Demobilisierung immatrikulierte er sich als Student der Ingenieurwissenschaften an der Technischen Hochschule Darmstadt. Sein Diplom-Hauptexamen bestand er im Juli 1922 mit „Gut”, und nach einer kurzen Tätigkeit als Assistent am Lehrstuhl für Statik und Brückenbau erhielt er am 1. Oktober 1923 eine Anstellung bei der Firma Luftschiffbau Schütte-Lanz, was sicher Einfluss auf seinen späteren Berufsweg hatte.
Bevor Fritz Heyner 1927 Leiter der Entwurfsabteilung bei der „Gesellschaft für Verkehrstechnik” wurde, absolvierte er noch ein Zusatzstudium der Volkswirtschaft und der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Heidelberg. 1929 siedelte er nach Hannover über und übernahm den Posten eines Konstruktionschefs und Betriebsleiters bei der „Flugbahn-Gesellschaft” von Franz Kruckenberg. Seine Aufgabe war der Bau von Versuchstriebwagen mit extra hohen Fahrgeschwindigkeiten.
Als die Weiterentwicklung an diesem Schnelltriebwagen nach 1933 von den NS-Behörden gestoppt wurde, gelang es ihm, in Hans Keilhacks Firma „Ikaria” in Hohenschöpping (bei Velten) eine neue Stelle als Konstruktionschef zu finden. Diese Firma rüstete Kampfflugzeuge mit Bordwaffen und Plexiglas-Flugzeugkanzeln aus. Im Laufe dieser Tätigkeit wurde Heyner technischer Direktor, Chefkonstrukteur, Prokurist und schließlich, 1937, Geschäftsführer der Ikaria-Werke.
Über diesen Lebensabschnitt des Diplom-Ingenieurs habe ich in dem Text „Das ungewöhnliche Schicksal des Hans Keilhack” („Blickpunkt Frohnau”) Folgendes geschrieben:
„Er tat sich mit einem anderen Frohnauer zusammen, dem Diplomingenieur Fritz Heyner aus dem Bieselheider Weg, der 1929 an der Konstruktion des Schienenzeppelins von Franz Kruckenberg beteiligt gewesen war. Heyner als Theoretiker und Keilhack als Praktiker bauten zunächst Holzmodelle, erwarben die Lizenz für verschiedene Produkte der Schweizer Rüstungsfirma Bührle-Oerlikon und entwickelten sie weiter [...]”
Fritz Heyner war jetzt also in der Rüstungsindustrie tätig und wurde Wehrwirtschaftsführer im Offiziersrang. In die NSDAP trat er allerdings nicht ein. In der „Ikaria” war er auch für die „Fremdarbeiter” zuständig, die die Arbeitsplätze der nach und nach zum Kriegsdienst eingezogenen deutschen Betriebsangehörigen übernehmen mussten. Dass er sich in dieser Funktion nichts zuschulden kommen ließ, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich nach dem Zusammenbruch bei seiner „Entnazifizierung” genügend Fürsprecher auch aus den Reihen dieser Zwangsarbeiter fanden, die für ihn aussagten.
Doch jetzt stand er erst einmal vor dem Nichts. Allerdings war er tatkräftig genug, um bald neue Erwerbsquellen zu finden. Er zog über die Dörfer und reparierte Landmaschinen, gründete 1946 in Waidmannslust eine Firma mit der Bezeichnung „Geräte- und Maschinenbau” und produzierte die verschiedensten Dinge. Neben landwirtschaftlichen Geräten waren das zum Beispiel Kochtöpfe, die er aus Wehrmachtshelmen herstellte, sowie Ofenrohre, die man – besonders im kalten Winter von 1946/47 – dringend für die überlebenswichtigen Kanonenöfen brauchte. Zu seinem Sortiment gehörten sogar Puppenwagen. Später ging er dazu über, Zubehör und Einrichtungen zur Organisation und Rationalisierung von Büro- und Verwaltungsarbeit herzustellen, zum Beispiel Stahlschränke für die Firma „Adrema” (Adressiermaschinen), ebenso Büroschränke und -möbel für Krankenhäuser und Pistolenschränke für die Polizei.
Seine Firma war sehr erfolgreich und beschäftigte in ihren besten Zeiten etwa einhundert Mitarbeiter. Sein Sohn Walter erinnert sich, dass der Vater nicht nur ein begnadeter Konstrukteur war, sondern auch andere Menschen leicht von seinen Ideen überzeugen konnte. So hatte er einen guten Kontakt zu den Betriebsangehörigen, seien es Fachleute oder Auszubildende. Wegen seiner Erfahrung und seines Einfühlungsvermögens wurde Fritz Heyner vom Senat zum ehrenamtlichen Arbeits- und Sozialrichter berufen. Im Jahre 1958 wurde er als Leiter einer Berliner Wirtschaftsdelegation in den USA von Präsident Eisenhower im Weißen Haus empfangen.
Seinen Sohn Walter wollte Fritz Heyner eigentlich nicht in seinem Betrieb haben, denn der sollte seinen Weg unabhängig von seinem Vater machen. Doch als sich herausstellte, dass Walter, der Physik studieren wollte, ein Jahr auf einen Studienplatz würde warten müssen, nahm er die Gelegenheit wahr und machte im Betrieb seines Vaters bei verschiedenen Mitarbeitern ein Praktikum. Als die DDR ihre Grenze zu West-Berlin abriegelte, waren etwa zwei Drittel der Betriebsangehörigen von ihrem Arbeitsplatz abgeschnitten. Doch auch mit nur noch 30 bis 35 Mitarbeitern fand Heyner Mittel und Wege, den Betrieb noch etwa acht Jahre aufrechtzuerhalten, bevor er ihn an einen Mitarbeiter verkaufte.
Nach seinem 70. Geburtstag litt Fritz Heyner mehr und mehr an Lähmungserscheinungen, und als er am 31. Dezember 1971 starb, hatte er bereits anderthalb Jahre im Krankenhaus gelegen. Eine bleibende Erinnerung an den tüchtigen Diplomingenieur sind die modernen ICE-Züge, deren Triebköpfe der Vorderfront des „Schienenzeppelins” ähneln, die Fritz Heyner schon in den zwanziger Jahren zusammen mit seinem damaligen Chef Franz Kruckenberg entwickelt hat. Von der Rekordfahrt, die damals eine Sensation war, berichtete sogar der Rundfunk: „Es war ein herrliches Bild. In der frühen Morgenstunde haben sich viele Menschen hier schon eingefunden, die übrigens auf die ganze Strecke [...] verteilt sind. Jeder hat versucht, sich den besten Platz herauszusuchen...”