Robert Jacquinot de Besange
Im September 1946 fand in Frohnau eine eindrucksvolle Trauerfeier statt. Zu den anwesenden Honoratioren gehörten der Berliner Erzbischof Kardinal Konrad von Preysing, der russisch-orthodoxe Bischof von Brüssel und Berlin Alexander und der Kommandant der französischen Besatzungsmacht General Marie-Pierre Koenig. Den Vatikan und den Jesuitenorden repräsentierten die Patres Nicot und Lesage, wobei letzterer die Totenmesse las. Außerdem wohnten der Feier französische, englische und amerikanische Militärgeistliche bei sowie fast alle Jesuitenpriester in Berlin, Diplomaten und Professoren der Humboldt-Universität. Ort der Veranstaltung war die katholische Kirche St. Hildegard, die in der Nachkriegszeit den französischen Militärangehörigen als Garnisonskirche diente.
Die Trauerfeier galt dem Jesuitenpriester Robert Jacquinot de Besange, einem außergewöhnlichen Mann, der es im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg (1937-1945) erreicht hatte, dass die „Shanghai Safe Zone” eingerichtet und damit schätzungsweise 360.000 Zivilisten, darunter 80.000 Kindern, eine Zuflucht geboten wurde, durch die sie von den Kriegshandlungen verschont wurden. Er hatte sich nicht gescheut, die Frontlinien zu überschreiten und sowohl mit den Japanern als auch mit den Chinesen zu verhandeln, um sein humanitäres Ziel zu erreichen.
Robert Charles Joseph Emile Jacquinot de Besange stammte aus dem westfranzösischen Städtchen Saintes, wo er als Sohn einer adligen Familie am 15. März 1878 geboren wurde. Er trat schon mit sechzehn Jahren der Ordensgemeinschaft Societas Jesu bei und erhielt von ihr nach seiner Ausbildung den Auftrag, in der chinesischen Hafenstadt Schanghai zu missionieren. Eigentlich wollte Jacquinot lieber in der Nähe seiner kranken Mutter bleiben, doch gehorchte er schließlich den Anweisungen des Ordens. In Schanghai missionierte er nicht nur, sondern lehrte auch an der von seinem Orden geleiteten Aurora-Universität als Professor für englische Sprache und Literatur.
Als er versuchte, für seine Studenten Feuerwerkskörper herzustellen, kam es zu einer Explosion, bei der der eigenwillige Mann seinen rechten Arm verlor. Seither war er als der „einarmige Priester” bekannt. In ihrer Ausgabe vom 7. November 1938 beschrieb die TIME den Gründer der „Safe Zone” als einen „square-bearded, black-robed, one-armed French Jesuit”, also als quadratbärtigen, schwarzgewandeten, einarmigen französischen Jesuiten. Wie Volker Nies in seinem Buch „»Apaisement« in Asien” (Pariser Historische Studien) schreibt, konnte es sich „der Pater sogar erlauben, japanischen Soldaten mit dem Holzarm burschikos auf den Kopf zu klopfen.”
Die japanische Offensive begann drei Wochen nach dem so genannten „Zwischenfall an der (etwa 15 Kilometer südwestlich von Peking gelegenen) Marco-Polo-Brücke” vom 7. Juli 1937. Schanghai wurde im November des gleichen Jahres nach einer verlustreichen Schlacht von den von der See her angreifenden japanischen Truppen eingenommen. Jacquinot, der schon seit 1913 in China gelebt, dort vielfältige Erfahrungen gesammelt hatte und neben seiner Muttersprache auch Englisch, verschiedene chinesische Dialekte und japanisch sprach, erwies sich als ein gewiefter Vermittler. Er konnte beide kriegführenden Seiten davon überzeugen, dass die Organisation der Sicherheitszone und die Versorgung der Flüchtlinge zu aller Vorteil war. Die Japaner wussten es besonders zu schätzen, dass in der „Jacquinot-Zone” eine geradezu vorbildliche Ordnung herrschte.
Im Juni 1940 musste der Jesuit auf Anweisung seines Ordens China verlassen, um im kriegsgeschüttelten Europa als Sonderbotschafter des Vatikans Gelder zu sammeln und sich um die Versorgung der Flüchtlinge und Vertriebenen zu kümmern, eine äußerst aufreibende Tätigkeit, zumal er in Europa nicht so gut „vernetzt” war wie in China. Im Dezember 1945 wurde er Leiter der „vatikanischen Delegation in Berlin für die Hilfe der Flüchtlinge und Vertriebenen”.
Seine letzten Monate beschreibt die amerikanische Schriftstellerin Marcia R. Ristaino in ihrem Buch „The Jacquinot Safe Zone”, Stanford 2008. Jacquinot sei sichtlich erschöpft gewesen, als er in Berlin eintraf. Man habe ihn beschworen, seine Arbeitslast zu reduzieren, doch habe er nicht auf seine Freunde gehört. Er sei sogar in die kriegszerstörte Stadt Breslau gereist und habe Berichte über die Verwüstungen auf dem Lande mit seinen zerstörten Dörfern und geplünderten Häusern geschrieben. In Breslau habe er sich um die Frauen und Kinder gekümmert, die von den neuen Behörden ausgewiesen wurden. Außerdem habe er einen ausführlichen Bericht über die Möglichkeiten geschrieben, die bislang in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien ansässigen Deutschen in die UNRRA-Lager der vier Besatzungszonen zu schaffen. Die „United Nations Relief and Rehabilitation Administration” (UNRRA) kümmerte sich in ihren Lagern um die sogenannten „displaced persons”, also die Vertriebenen.
Weiter berichtet Ristaino, dass Jacquinot im späten August 1946 eine große Gruppe deutscher Priester nach Paris begleitet habe. Die Anstrengungen dieser Reise hätten seine ohnehin schon schwache Gesundheit weiter untergraben. Nach seiner Rückkehr nach Berlin sei er nicht mehr fähig gewesen, die Messe zu lesen. Am 6. September sei er gestürzt und wegen seiner Verletzungen in das französische Militärkrankenhaus in Reinickendorf (Teichstraße) eingewiesen worden. Hier hätten die Ärzte festgestellt, dass der Priester an Leukämie litt. Sie hätten eine Bluttransfusion durchgeführt, die jedoch nur vorübergehend geholfen habe.
Die folgende Episode bezeichnet Marcia R. Ristaino als typisch für Eigenwilligkeit des Jesuitenpaters: „Am 9. September, als man ihm wieder einmal die letzte Ölung anbot, verlangte Jacquinot stattdessen nach einer Flasche Champagner, und als man sie ihm reichte, nahm er ein paar Teelöffel voll davon zu sich und forderte alle Anwesenden auf, auf seine Gesundheit zu trinken. Für viele seiner Gefährten schien diese Art der Feier ein passendes Ende für sein reiches bewusstes Leben zu sein.” Am nächsten Tag fiel er ins Koma, erhielt die Sterbesakramente und verstarb am gleichen Tage um 16.40 Uhr.
Diese Geschichte wäre in Frohnau wahrscheinlich unbekannt geblieben, wäre am 1. März 2013 nicht ein chinesischer Mitarbeiter des „John Rabe Communication Centre Heidelberg” in der Kirche St. Hildegard erschienen und hätte sich erkundigt, ob es hier Unterlagen über den letzten Lebensabschnitt von Robert Jacquinot gebe. Da man diesen Namen noch nie gehört hatte, verwies man den Herrn aus China an mich. Mir erging es nicht anders als den Gemeindemitgliedern, doch immerhin erhielt ich vom Reinickendorfer Friedhofsamt die Auskunft, dass sich ein Emile Jacquinot „auf dem landeseigenen Friedhof Heiligensee [...] in der Grabstelle Abt. 34, Reihe 1, Nr. 17, der sogenannten Franzosenabteilung” finde. Emile war, wie weiter oben erwähnt, der vierte Vorname des Priesters aus adligem Geblüt.
Und warum interessiert sich der Chinese Jiang Yuchun für den französischen Jesuiten? Nun, das Heidelberger „Comunication Centre” wird von Thomas Rabe geleitet, dem Enkel von John Rabe. Der wiederum hatte Ende 1937 als Vorsitzender eines internationalen Komitees nach dem Vorbild der „Jacquinot-Zone” und unter Vermittlung des Jesuitenpaters eine Sicherheitszone in Nanking (oder Nanjing) errichtet. Dabei half, dass John Rabe, ein Kaufmann aus Hamburg, Mitglied der NSDAP war und über einen guten Draht zu den mit dem Deutschen Reich verbündeten Japanern verfügte. Für seine humanitären Verdienste erhielt Rabe verschiedene Ehrentitel, zum Beispiel „Der gute Deutsche von Nanjing” und der „Oskar Schindler Chinas”. (Schindler, ebenfalls Mitglied der NSDAP, hatte sich bekanntlich um die Rettung jüdischer Zwangsarbeiter verdient gemacht.)
So ist es kein Wunder, dass sich das John-Rabe-Kommunikationszentrum auch für den „Erfinder" der chinesischen Sicherheitszonen interessiert, und ebenso plausibel erscheint, dass es ein Chinese ist, der das Leben und Wirken des Jesuitenpaters Robert Jacquinot recherchiert. Neben Forschung und Dokumentation möchte das kleine Heidelberger Informationszentrum „eine Basis zur Völkerverständigung, insbesondere zwischen China und Japan” schaffen (Wikipedia). Was nun Robert Jacquinot betrifft, so wurde sein Konzept der Sicherheitszonen drei Jahre nach seinem Tode in die Protokolle und Kommentare zu den Genfer Konventionen von 1949 aufgenommen.