Frohnau und die Schiller-Pianos

Es ist noch nicht lange her, dass zwei Männer in der Stolper „Krummen Linde” ein Glas Bier auf ihre Urgroßväter leerten, die im Jahre 1903 einen wichtigen Kaufvertrag abgeschlossen hatten. Der eine dieser Urgroßväter war der Kammerherr Werner von Veltheim, der geschichtsbewussten Frohnauern wohl bekannt ist. Er hatte nämlich am 10. Dezember 1907 einen weiteren wichtigen Kaufvertrag abgeschlossen, diesmal mit dem Fürsten Donnersmarck, und damit das Land verkauft, auf dem in den folgenden Jahren Frohnau entstand.

Und wer war nun der andere Urgroßvater? Es war Johannes Schiller, Gründer einer Piano-Fabrik, die sich schnell einen guten Ruf erwarb und im Laufe ihres Bestehens ungefähr 54 000 Klaviere und Flügel gebaut hat. Schiller hatte die „Piano- u. Flügelfabrik” bereits 1884 gegründet, allerdings nicht auf Veltheim-Land, sondern in der Stadtmitte von Berlin in der Nähe des Rosenthaler Platzes. Die Klavier- und Flügelproduktion florierte, und das, obwohl die Konkurrenz groß war. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es gut 200 Pianofabriken und -handlungen in der Hauptstadt, darunter so klangvolle Namen wie Carl Bechstein und Julius Blüthner.

Doch Schiller verdiente so gut, dass er 19 Jahre nach der Gründung seiner Fabrik den erwähnten Kaufvertrag abschließen und einen Teil der Produktion nach Neubrück an der Havel verlagern konnte. Als Werner von Veltheim dem Fürsten Donnersmarck ein Optionsgebiet zur Erweiterung der Gartenstadt Frohnau einräumte, dessen westlicher Teil bis an die Havel reichte, musste er einen Teil des Geländes ausnehmen, denn der gehörte bereits dem Pianofabrikanten. Für die 20.000 Quadratmeter hatte Schiller übrigens 20.000 Goldmark bezahlt, also eine Goldmark pro Quadratmeter.

In den im Berliner Adressbuch geschalteten Anzeigen hieß es nun: „Dampfsägewerk Neubrück bei Hennigsdorf, Fabrikation von Pianos, Stutzflügeln und Kunstspielpianos.” In Neubrück wurde das Holz zurechtgeschnitten, das man für die Gehäusefertigung der Instrumente brauchte. Es kam aus Ostpreußen und wurde bis an das Neubrücker Werksgelände geflößt. Der Firmenchef fuhr zur Auswahl der Bäume jedes Jahr selbst nach Ostpreußen, wo er sich gut auskannte, stammte er doch aus dem ostpreußischen Passenheim bei Allenstein.

Er war am 8. November 1854 geboren worden, hatte eine Lehre zum Möbeltischler anschließend eine weitere zum Klavierbauer bis hin zum Meister absolviert. In seiner Geburtsurkunde stand in der Rubrik Religionszugehörigkeit etwas Merkwürdiges: Dissident. Heute wird das Wort meist im politischen Sinne benutzt. Doch hier hatte es noch seine ursprüngliche Bedeutung nämlich: außerhalb einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft Stehender. Schillers Familie gehörte einer Freikirche an, der Brüdergemeinde. Wer bei ihm arbeiten oder lernen wollte, musste zwar nicht unbedingt dieser Richtung angehören, aber doch wenigstens christlichen Bekenntnisses sein.

Für die Werksangehörigen, die wegen der (teilweisen) Verlagerung der Produktion von Berlin nach Neubrück umziehen mussten, ließ Schiller auf dem Fabrikgelände ein Haus mit 22 Wohnungen bauen, das sogenannte Schillerhaus. Während des Ersten Weltkrieges brannte ein Teil der Fabrikanlagen ab, der Südflügel des Hauses wurde beschädigt. Aber nicht nur das. Das Feuer erfasste auch die bis zu zehn Jahre zur Trocknung lagernden Holzvorräte, ein herber Verlust. Auch die Inflationsjahre machten der Firma schwer zu schaffen.

Es dauerte bis 1923, dass sie sich wieder aufrappelte und die Pianoproduktion einen neuen Aufschwung nahm. Im Südflügel des Schillerhauses wurde im Souterrain ein Betsaal für die Brüdergemeinde errichtet. Von den Pianos und Flügeln ging ein nicht unerheblicher Teil ins Ausland, besonders in die USA und nach Südamerika. Dabei halfen staatliche Subventionen, denn durch den Export sollten Devisen in die Kassen des Deutschen Reiches gespült werden, die der Rüstungsindustrie den Einkauf kriegswichtiger Erze und Metalle ermöglichen sollten.

Im Bombenkrieg der vierziger Jahre erschien der Standort im Berliner Zentrum besonders gefährdet, so dass sich Schiller entschloss, seinen Warenbestand auf das Neubrücker Grundstück zu schaffen, um ihn vor den Bomben zu schützen. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Bei dem Angriff vom 26. November 1943 wurde ein britisches Flugzeug von der Flak getroffen und warf daraufhin seine Bombenlast ab, die zum größten Teil auf dem Schillerschen Fabrikgelände niederging. Man zählte 89 Magnesiumstabbrandbomben, die das Sägewerk und einen Teil der übrigen Fabrikgebäude zerstörten. Das Wohnhaus aber konnte gerettet werden.

Mit diesem Haus, das auch während der DDR-Zeit trotz seiner Nähe zum Sperrgebiet bewohnt wurde und bis in unsere Tage als Wohnhaus dient, ist ein typisches Kriegs- beziehungsweise Nachkriegsgeschehen verbunden. Nachdem Frohnau in der Nacht zum 22. April 1945 von der Sowjetarmee weitgehend kampflos genommen worden war, verlagerte sich die Front an die Havel. Ziel war es, bei Ketzin den Ring um Berlin zu schließen und die solchermaßen eingekreiste Hauptstadt zu erobern. Da die Wehrmacht die Havelbrücken gesprengt hatte, geriet der Vormarsch der Sowjets ins Stocken. Vom Hof des Schillerhauses aus beschoss russische Artillerie das von den Deutschen gehaltene westliche Havelufer. Gegen Abend des 22. April gelang es den Sowjets, nicht zuletzt mit Hilfe der Schillerschen Holzvorräte, eine Behelfsbrücke zu bauen und die Havel zu überqueren.

Die Bewohner des Schillerhauses, elf ältere Männer, 27 Frauen und 17 Kinder und Jugendliche, wurden von einem russischen Offizier aufgefordert, die Kampfstätte zu verlassen und sich auf den Weg ins bereits eroberte Frohnau zu machen. Nach einer abenteuerlichen Flucht mit gefährlichen Situationen und allerlei Anfeindungen besonders durch die ehemaligen „Fremdarbeiter” (Zwangsarbeiter) gelangte die Gruppe schließlich nach Frohnau, wo sie in den Häusern der beiden Fabrikbesitzer im Ludolfingerweg und in der Rüdesheimer Straße sowie bei dem Geschäftsführer Rudolf Brockhaus im Maximiliankorso Unterschlupf fanden. Niemand war verwundet worden. Allerdings durften die Neubrücker nicht in Frohnau bleiben. Man schickte sie zurück zum Schillerhaus, wo sie um den 8. Mai herum eintrafen.

Das alles musste Johannes Schiller nicht mehr erleben. Er war bereits am 10. Dezember 1927 gestorben. Die Pianofabrik hatten zwei seiner vier Söhne, nämlich Wilhelm und Hans Schiller übernommen. Und diese zogen in den dreißiger Jahren nach Frohnau, Wilhelm in die Rüdesheimer Straße und Hans in den Ludolfingerweg. Sicher mochten die beiden Brüder den idyllischen Vorort, doch vor allem spielten praktische Gründe eine Rolle. Einerseits kam man von Frohnau mit der S-Bahn schnell in die Innenstadt, und andererseits war es nicht sehr weit bis nach Neubrück, so dass man es leicht mit dem Fahrrad erreichen konnte. Nicht dass die Fabrikbesitzer kein Auto gehabt hätten, doch von solcherlei modernen Gefährten machte man damals eher sparsamen Gebrauch.

Mit dem Kriegsende hatte die Pianofabrik des Johannes Schiller aufgehört zu existieren. Sein Sohn Hans verdiente sein Geld bis ungefähr 1965 mit dem Verleih von Klavieren. Trotz des Endes der Produktion sind Schillerklaviere bis heute ein Begriff. Von den erwähnten 54 000 Pianos und Flügeln sind schätzungsweise noch zwei Drittel vorhanden. Und auch im Internet werden sie angeboten. Bei Ebay ist zum Beispiel eins für 1890 Euro zu haben.

Das Schillerhaus aber besteht weiter. Vor dem Betsaal, der übrigens nach Kriegsende für politische Schulungen benutzt wurde, steht heute ein Schaukasten, in dem ein Plakat verkündet: „Christliche Versammlungen in Hennigsdorf und Neubrück. Auch Sie sind herzlich eingeladen.” Die 22 Wohnungen sind alle vermietet. In einer von ihnen hat der eingangs erwähnte Urenkel des Firmengründers sein Büro, in dem – natürlich – ein Schillerpiano steht. Wohnen tut er allerdings in Frohnau.