Das Haus 49 der Invalidensiedlung

Am 21. Februar 1958 veröffentlichte der „Nord-Berliner” einen längeren Artikel über die Invalidensiedlung, der mit den Worten begann: „Berlin ist wahrhaftig nicht arm an schmerzlichen Besonderheiten als Folge der Spaltung unseres Vaterlandes und unserer Heimatstadt.” Zu diesen „schmerzlichen Besonderheiten” zählte der „Nord-Berliner” die Frohnauer Invalidensiedlung. Da die Siedlung fast vollständig isoliert sei, müssten ihre Einwohner mit allerlei Widrigkeiten fertig werden, so die Lokalzeitung.

Da sei einmal die schlechte Verkehrsanbindung. Damals war es der 12er Bus, der die Invalidensiedlung bediente. Er hatte in Frohnau drei Endhaltestellen: die Hainbuchenstraße, den Pilz an der Oranienburger Chaussee und eben die Invalidensiedlung. Zu letzterer fuhr er nur alle 40 Minuten. Allerdings hatten die Einwohner der Invalidensiedlung schon schlechtere Verkehrverbindungen erlebt. Als noch die Firma Schneider ihre Busse in den Frohnauer Nordzipfel fahren ließ, tat sie das nur neunmal am Tage. Und der letzte Bus verließ die Siedlung schon um 21.10 Uhr. Mit der BVG dagegen konnte man bis spät in die Nacht in das abgelegene Stückchen Frohnau fahren. Der letzte Zwölfer von der See- Ecke Müllerstraße zur Invalidensiedlung fuhr um 23.45 Uhr ab.

Im Jahre 1958 hatte die Invalidensiedlung 600 Bewohner. In der Hauptsache waren das Kriegsbeschädigte des Zweiten Weltkriegs. Doch immerhin zehn Prozent waren Invaliden aus dem Ersten Weltkrieg. 600 Bewohner in den insgesamt 180 Wohnungen der 49 Mehrfamilienhäuser – das bedeutet doppelt so viele wie heutzutage und damit eine ziemliche Enge. Laut Wolfram Sternbeck („Die Invalidensiedlung in Berlin-Frohnau”) wohnten im Frühjahr 2006 in der Siedlung noch ungefähr 300 Menschen, unter ihnen zehn Kriegsbeschädigte.

Seit 1952 gab es nur einen Ausgang aus der Sied­lung: die S-Bahn-Unter­führung am Hubertusweg (heute Staehleweg). Auf allen anderen Seiten ver­sperrte Stacheldraht den Weg. Auch das nahe ge­legene Hohen Neuendorf, wo man früher seine Ein­käufe erledigt hatte, war unerreichbar. So blieb man angesichts der schlechten Verkehrsver­bindungen ins übrige Berlin meist im Kietz. Doch der hatte immerhin etwas zu bieten, das den Einwohnern das Leben erleichterte. Im Gegensatz zu heute gab es eine Post, auf der man auch seine Rente abholte, einen Landposten der Polizei, der unter anderem den Gehbehinderten manchen Weg abnahm, und das Gemeinschaftshaus. Dazu kam eine Anlage für Versehrtensport, den etwa ein Drittel der Bewohner eifrig nutzte.

Im Gemeinschaftshaus gab es eine Kantine, eine Bücherei mit kostenloser Ausleihe und ein Lebensmittelgeschäft, dazu einen Friseursalon, der noch heute existiert. Der frisch renovierte große Saal stand für Gottesdienste, Kinovorführungen und verschiedene kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung. Um Ausflügler in die Siedlung zu locken, versuchten die Kriegsopferverbände im Verein mit dem Volksbildun­gsamt Reinickendorf, das Gemeinschaftshaus mit kulturellen Veranstaltungen auch über die engen Grenzen der Siedlung hinaus bekannt zu machen. Außerdem wies man die in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkten West-Berliner darauf hin, dass sich der Norden Frohnaus für lohnende Ausflüge anbiete.

Der Bericht des „Nord-Berliners” vom 21. Februar 1958 erwähnt auch das einzige Wohnhaus, das den Krieg nicht unbeschadet überstanden hatte und dessen Fertigstellung nach längeren Bauarbeiten unmittelbar bevorstand. Und tatsächlich konnte man 14 Tage später in dem Lokalblatt einen Bericht vom Richtfest des Hauses Nr. 49 lesen. „Durch den Bau werden sechs Wohnungen geschaffen, die voraussichtlich bis zum Juli bezugsfertig sein werden”, teilte der „Nord-Berliner” seinen Lesern mit. (Ursprünglich waren in dem Haus zwei Vierzimmerwohnungen.) Wie sich später herausstellte, konnten die neuen Mieter allerdings erst Ende des Jahres einziehen.

Was der „Nord-Berliner” nicht mitteilte, waren die dramati­schen Umstände, die mit der Zerstörung des Hauses ver­bunden waren. Darüber infor­miert uns der erwähnte Wolf­ram Sternbeck. Ein Versehrter aus dem Ersten Weltkrieg, „der noch an den Endsieg glaubte”, habe nach dem Ein­zug der Russen am 22. April 1945 einen sowjetischen Offi­zier erschossen, der vor dem Haus auf einem Panzer stand. Daraufhin hätten die Sowjets das Haus umstellt und ange­zündet. Die Soldaten hätten den Befehl gehabt, niemanden aus dem brennenden Haus entkommen zu lassen. Doch es stellte sich heraus, dass der Schütze dort allein war. Eine daraufhin angeordnete Erschießung aller männlichen Bewohner der Siedlung konnte glücklicherweise in letzter Minute abgewendet werden.

Das Haus 49 mit seinem besonderen Schicksal unterscheidet sich von allen anderen Wohnhäusern der Siedlung. Seit seinem Wiederaufbau hat es wegen des seinerzeit unzureichenden Baumaterials die holländischen Klinkersteine nur noch an den Seiten. Die übrigen Flächen erhielten einen Putz, der durch seine rotbraune Farbe verhindern soll, dass das Gesamtbild der Siedlung beeinträchtigt wird. Übrigens hat das Hauszeichen den Brand überlebt. Es erinnert an eine Schlacht des Siebenjährigen Krieges, die 1760 in der Umgebung der westfälischen Stadt Warburg stattgefunden hatte. Natürlich eine siegreiche für die Preußen und die mit ihnen verbündeten Briten.