Der Nordübergang

Als Helmut Schmidt 1975 anlässlich der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) mit Erich Honnecker einen Nordübergang für West-Berlin verabredete, ahnte er wohl nicht, welche Schwierigkeiten die gute Absicht barg. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Dabei wollte die DDR nicht etwa eine neue Transitstrecke nach Westdeutschland einrichten, sondern nur einen Grenzübergang für die Einreise in ihr Gebiet und für den Transitverkehr nach Skandinavien und nach Polen. Wer nach Westdeutschland wollte, sollte weiterhin die Autobahnen und die Bundes- beziehungsweise Fernstraße 5 benutzen.

Die Frage war nun, wo der Übergang eingerichtet werden sollte. Der Senat schlug sechs Varianten vor, drei im Span­dauer Norden, eine in Heiligensee, eine in Hermsdorf und die sechste in Frohnau. Hier wäre die Oranienburger Chaussee in Frage gekommen, allerdings nur unter der Bedingung, dass der so genannte Entenschnabel zum Westen komme oder aber ohne Kontrolle zu durchfahren sei. Zur Not wäre man auch bereit gewesen, eine Hochstraße oder einen Tunnel zu bauen.

Die DDR entschied sich ausgerechnet für Frohnau. Aber nicht für die Oranienburger Chaussee, sondern für eine gänz­lich unerwartete Stelle, nämlich für den Zerndorfer Weg. Damit war nicht die Straße zwischen Edelhofdamm und Schönfließer Straße gemeint, sondern ein Feldweg, der seiner­zeit das ehemalige Vorwerk Zerndorf mit dem Dorf Stolpe verband. Das bedeutete, dass der Übergang um die Unterfüh­rung südlich der Baumschule Preiss herum hätte entstehen müssen. Dazu kam, dass die DDR die Überlassung oder auch nur Überbauung des Entenschnabels strikt ablehnte.

Als das bekannt wurde, schrillten in Frohnau die Alarmglocken. Wie sollte man zu der abgelegenen Unterführung kommen? Wo sollten die notwendigen Stauräume eingerichtet werden? Und sollte der gesamte grenzüberschreitende Verkehr etwa durch das Zentrum der Gartenstadt geführt werden? Transitverkehr nach Skandinavien und Polen hätte ja auch bedeutet, dass eine Vielzahl von Lastwagen ihren Weg durch die Frohnauer Straßen hätten nehmen müssen. Man rechnete mit mindestens 2000 Fahrzeugen täglich, davon zwei Drittel Lastwagen im Transitverkehr. Damit wäre das Frohnauer Straßennetz völlig überfordert gewesen.

So setzten sich die Frohnauer, die während der Mauerzeit keinen Durchgangsverkehr kannten, mit Protestversammlungen und -schreiben zur Wehr. Am 10. Juli 1976 gab es eine große Protestkundgebung in Frohnau, an der mehr als 2500 Menschen teilnahmen. Vor der Johanneskirche sprach der SPD-Politiker Dietrich Stobbe. Die CDU forderte den Verzicht auf einen Nordübergang und legte am Zeltinger und am Ludolfingerplatz Unterschriftslisten aus. Eine Bürgerinitiative schrieb an den Regierenden Bürgermeister, dass der Übergang ein traditionelles Erholungsgebiet zerstören würde.

Auch der Grundbesitzer-Verein stand da nicht zurück. Am 2. Juli 1976 richtete er ein Schreiben an Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz und protestierte gegen die geplante Streckenführung durch Frohnau. Er hatte sogar einen Alternativvorschlag parat: Warum nicht das nur teilweise von der Reichsbahn genutzte Bahngelände für den Bau einer kreuzungsfreien Zubringerstraße verwenden? Man stellte sich vor, dass der ins Auge gefasste Grenzverkehr an der Kurve der Bundesstraße 96 im Hermsdorfer Süden auf die Bahntrasse geleitet und dann neben den S-Bahn-Gleisen direkt zum geplanten Übergang weitergeführt werden könne.

Doch dann musste man erstaunt im Tagesspiegel lesen, dass der Senator für Bau- und Wohnungswesen dabei war zu untersuchen, ob es nicht möglich sei, den Fernverkehr über die Burgfrauenstraße zum Zeltinger Platz und erst da auf das Bahngelände zu leiten. Offenbar hatte Dietrich Stobbe, damals noch Senator für Bundesangelegenheiten, davon gesprochen, dass die Interessen einiger Anlieger hinter die der Allgemeinheit zurücktreten müssten. Empört formulierte der damalige Vorsitzende des Grundbesitzer-Vereins Ernst Alberts in einem Schreiben vom 3. August 1976: „Es wäre ein Hohn auf die Bekenntnisse des Denkmalschutzes, wenn der Zeltinger Platz in sinnloser Weise zerstört werden würde.“ Und das auch noch im Jahr des Denkmalschutzes. Wenn Frohnau sich durchaus nicht eigne, so sollte man den Fernverkehr doch über die Ruppiner Chaussee in Heiligensee leiten.

Ob es nun die Proteste der Frohnauer waren, die Wirkung zeigten, oder ob andere Entwicklungen maßgeblich dahinter steckten – jedenfalls wurde in Frohnau kein Nordübergang gebaut. 1978 begannen die Verhandlungen mit der DDR über eine Autobahnverbindung nach Hamburg als Ersatz für die Fernstraße 5. Vier Jahre später wurde der Grenzübergang Heiligensee-Stolpe eröffnet. Spätestens jetzt hatte sich das vorher heiß diskutierte Thema erledigt.

Übrigens – für kurze Zeit gab es tatsächlich einen Nordübergang, und zwar an der Oranienburger Chaussee. Er wurde aber erst nach der Wende, am 17. Februar 1990, zur Freude der Frohnauer eröffnet. Zuerst durften ihn nur Fußgänger, Radfahrer und BVG-Busse passieren. Er existierte natürlich nur bis zur Wiedervereinigung, als aus den Grenzübergängen einfache Straßen ins übrige Deutschland wurden.