Frohnauer Abendpredigt

Ist die Jugend wirklich so schlecht, wie es der griechische Dichter Hesiod vor etwa 2700 Jahren behauptete? Er war weder der erste noch der letzte, der an der jungen Generation kein gutes Haar ließ. Leichtfertig sei sie, unverschämt und besserwisserisch. Sokrates beklagte sich etwa 400 Jahre vor Christi Geburt über die schlechten Manieren der Jugend, John Locke, der englische Philosoph, sprach 1690 von ihrer „frühen Verderbnis“. Und Erich Fromm, der amerikanische Psychoanalytiker, ging 1964 so weit, die deutsche Jugend als „völlig bindungslos, amoralisch und ohne Glauben“ zu beschreiben.

Diesen kategorischen Behauptungen wollte Dr. Hinrich Lühmann, der dritte Vortragende in der Reihe der „Frohnauer Abendpredigten“, nicht beipflichten. Doris Gräb, die Organisatorin und Leiterin der Reihe, hatte den inzwischen pensionierten Schulmann als „einen der profiliertesten Berliner Schulleiter“ vor­gestellt. In der Kirche hatte sich am Abend des 18. Januar 2009 eine große Gemeinde versammelt, die zu dem uns alle bewegen­den Thema die Analysen und die Meinung eines Fachmanns hören wollte. Hinrich Lühmann wiegelte zunächst ab. Es scheine doch ein uraltes Problem der Menschheit zu sein, das sich von Generation zu Generation wiederhole. Auch Goethe und Joschka Fischer seien in ihrer Jugend Rüpel gewesen. Mit zunehmender Reife hätten sie sich zu respektablen Persönlichkeiten entwickelt. Also viel Lärm um nichts?

Ganz so optimistisch wollte Lühmann die heutige Lage dann doch nicht sehen. Das Kinderzimmer habe heute keine Geborgenheit spendenden Wände mehr; das Internet habe der jungen Generation einen offenen Kosmos, einen unbegrenzten Zugang zur modernen Welt verschafft. Viele Wünsche könne man sich sofort erfüllen; die Eltern versäumten es, ihren Kindern das Prinzip des Aufschubs zu vermitteln. Haben sie in ihrer Rolle als Erzieher versagt? Es soll sogar Jugendliche geben, die ihren Eltern Hedonismus und Werteverlust vorwerfen.

In der Schule zumindest könne der Erfolg nur schrittweise und nur durch Fleiß und Anstrengung errungen werden. Die Vermittlung von Tugenden wie Fleiß, Ordnung, Höflichkeit oder Pflichtbewusstsein müsse Teil jedes Unterrichts sein. Wenn man heute die Wertevermittlung einem einzelnen Fach, also dem Fach Ethik, zuordnen wolle, begehe man einen großen Fehler. Unsere Jugend brauche Vorbilder, und kein Lehrer dürfe sich der Aufgabe entziehen, neben seinem speziellen Fach auch Werte und Einsichten zu vermitteln. Zu den Einsichten gehöre, dass unser Wissen begrenzt sei. Hier nahm Lühmann Bezug auf das so genannte Hohelied der Liebe (1. Korinther 13, 1-13), das vor der Predigt als Lesung vorgetragen worden war. Es heißt dort in Vers 9: „Denn unser Wissen ist Stückwerk,...“ So dürfe den Schülern nicht verborgen bleiben, dass die Wahrheiten von heute morgen falsch sein könnten.

Ein Lehrer dürfe sein Fach niemals isoliert sehen, sondern es in gesellschaftlicher Verantwortung unterrichten, also nach dem Grundsatz, der Unterrichtsstoff geht uns alle an und ist gesellschaftlich relevant. Dazu sei ein begründetes Urteil nötig, das sich auf Wissen und auf Verantwortungsbewusstsein stützt. Vor allem aber müsse der Lehrer bei seinen Schülern Neugier wecken und Engagement fördern. Und er müsse darin ein Vorbild sein. Kern aller Pädagogik und Grundlage jeder Werte-Erziehung sei und bleibe die Liebe zur Sache und die Liebe zum Kind, der pädagogische Eros. Dafür sei Zuwendungszeit erforderlich.

Es gehört zu Hinrich Lühmanns Prinzipien, dass die Grundlage der Erziehungsarbeit der Inhalt sei, nicht die Vermittlung von Kompetenzen, die an beliebigen Inhalten geschult werden könnten. Und das sei die Gefahr in der heutigen Bildungsforschung, bei den PISA- und sonstigen OECD-Studien. Kompetenzen hätten die Werte verdrängt. Es werde angestrebt, nur noch das zu unterrichten, was messbar und beweisbar sei. Die Verordnungen der für die Bildung zuständigen Behörden offenbarten einen gefährlichen Machbarkeitswahn. Nicht die vielseitig gebildete Persönlichkeit sei das Erziehungsziel, sondern die Tauglichkeit der Jugend für den Arbeitsmarkt.

In einer Zeit der Finanz- und Wirtschaftskrise werde Geld zur Ankurbelung der Wirtschaft bereitgestellt, zur Verbesserung der schulischen Ausrüstung, aber nicht zur Senkung der Klassenstärke. Anders als bei der Bildung und Werte-Erziehung spiele bei der bloßen Kompetenzvermittlung die Gruppengröße keine Rolle. Deshalb werde man nicht mehr Lehrer einstellen. Ihm bleibe nur die Hoffnung, dass das Pendel bald zur anderen Seite hin ausschlage, und der Mensch als Persönlichkeit wieder im Mittelpunkt stehe. Zum Schluss nahm Lühmann noch einmal Bezug auf Paulus, bei dem es heißt: Wenn ich mit Engels- und mit Menschenzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.

Im Nachgespräch ging es um die Frage, ob Lühmanns Darstellungen realistisch seien, ob er nicht zu sehr von einer intakten Familie ausgehe und von einem idealen gymnasialen Unterricht. Natürlich könne er nur über das reden, was er kenne, bekannte Lühmann. Seine Einstellung sei vom Humboldtschen Erziehungsideal geprägt, das sich, wenn auch nicht in nächster Zeit, so doch in der Zukunft wieder durchsetzen werde. Bei alledem wisse er um die Schwierigkeiten an den Schulen. Und wenn fünfzig Prozent der Schulkinder ohne Familie im alten Sinne, ohne elterliches Vorbild und ohne Geborgenheit aufwüchsen, so müssten Kindergarten und Schule dafür eintreten und Werte wie Toleranz und Verantwortungsbewusstsein vermitteln.

Allerdings habe die deutsche Gesellschaft bei der Aufgabe versagt, die Stellung der Lehrerschaft zu stärken und ihr durch die Schaffung kleiner Lerngruppen die Möglichkeit zu geben, den ihnen anvertrauten Schülern die notwendige Zuwendung angedeihen zu lassen. Vorbilder gebe es in anderen Ländern genug; Deutschland sei in einer entsprechenden OECD-Skala im unteren Drittel zu finden. Auf die Frage nach praktikablen Schritten plädierte Lühmann für den Ausbau der vorschulischen und der Grundschulerziehung und für Ganztagsschulen im Oberschulbereich.

Damit endete die dritte Veranstaltung der „Frohnauer Abendpredigten“. Die Reihe hatte am 26. Oktober 2008 mit dem Thema „Wie gerecht ist unsere Gesellschaft“ begonnen, zu dem die ehemalige stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer Stellung nahm. Die zweite „Abendpredigt“ hielt der ZDF-Redakteur Michael Bewerunge am 23. November 2008 zum Thema „Du sollst nicht töten – nur ein frommer Wunsch?“ Der Kreis schloss sich mit Hinrich Lühmanns Vortrag, der unter der Überschrift stand, „... und hätte der Liebe nicht. Werte-Erziehung in der schulischen Bildung“. Was als ein von der Landeskirche angeregtes und von der Pfarrerin Doris Gräb in die Tat umgesetztes Experiment angesehen wurde, hat, meine ich, die Erwartungen erfüllt, in Frohnau unter dem Dach der Kirche ein Forum für eine ernsthafte Diskussion christlicher und gesellschaftlicher Grundfragen zu schaffen. Die „Abendpredigt“ schloss mit großem Beifall der Anwesenden.