Violet Rudloff und die Frohnauer „Kunst- und Bücherstube“

Ankündigungen wie die folgende waren in den fünfziger, sechziger und ersten siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nichts Ungewohntes in unserer Gartenstadt: „Am Freitag, dem 27. Februar, veranstaltet die Buchhandlung Violet Rudloff, Frohnau, wieder einen Leseabend.“ (Der Nord-Berliner vom 20. Februar 1959). Diesmal war es der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre, den Violet Rudloff nach Frohnau gelockt hatte. Er sollte aus seinem Berlin-Roman „Als Vaters Bart noch rot war“ vorlesen. Stattfinden sollte die Veranstaltung im „Centre Culturel“ der französischen Besatzungsmacht.

Aber auch andere – vielleicht bekanntere – Schriftsteller wurden auf diese Art angekündigt: Werner Bergengruen, Hugo Hartung, Siegfried Lenz, Edzard Schaper, Stefan Andres, Bernt von Heiseler, Eva Müthel und auch der 1959 aus der DDR nach West-Berlin geflüchtete Uwe Johnson. Der damals in Frohnau lebende Staatsschauspieler Wilhelm Borchert ließ sich niemals lange bitten, wenn es darum ging, den Werken bekannter und auch weniger bekannter Schriftsteller eine Stimme zu geben. Als er 1958 das erste Mal auftrat, musste man die für das „Centre Culturel“ geplante Veranstaltung in den Gemeindesaal der Johanneskirche verlegen, so groß war der Andrang.

Nachdem Borchert am 15. Oktober 1958 im Gemeindesaal ausgewählte Kapitel aus Grimmelshausens „Simplicius Simplicissimus“ vorgelesen hatte, schrieb der Nord-Berliner: „Seine tiefe, volle Stimme trug die mit großer Meisterschaft gesprochenen Sätze bis zu den hintersten Plätzen des Gemeindesaals. Die Zuhörer dankten ihm für den Vortrag von ganzem Herzen.“

Wilhelm Borcherts Auftritt vom 22. Mai 1959 bildete einen Höhepunkt in den von Violet Rudloff veranstalteten Lesungen. Wie Christiane Knop 1980 in der Berliner Morgenpost in einer Fortsetzungsreihe über die Frohnauer Geschichte schrieb, hatte Borchert die Neuauflage von Oskar Loerkes Werken zum Anlass genommen, dabei zu helfen, den damals wenig bekannten Frohnauer Dichter dem Vergessen zu entreißen. Und so kündigte der Nord-Berliner am 15. Mai 1959 an: „Wilhelm Borchert liest aus dem Werk Oskar Loerkes, der viele Jahre in Frohnau lebte [...]. Loerke ist ein leider viel zu wenig bekannter Lyriker und Essayist.“

Der Grund, warum die Reihe 1972 ausklang, lag laut Knop darin, dass Violet Rudloff ihrer langjährigen Mitarbeiterin Erika Haberland das Geschäft übergab und diese das mit den Veranstaltungen verknüpfte finanzielle Risiko scheute, zumal die Autoren sich jetzt nicht mehr mit einem bescheidenen Honorar zufrieden gaben.

Dass sich die beiden Buchhändlerinnen weiterhin der Literatur und den Literaten verpflichtet fühlten, wurde deutlich, als sie dafür sorgten, dass auch Oskar Loerkes Grab auf dem Friedhof in der Hainbuchenstraße dem Vergessen entrissen wurde. Damit handelten sie zwar dem letzten Willen Loerkes zuwider, doch taten sie damit letzten Endes den Frohnauern – und nicht nur ihnen – etwas Gutes. Loerke wurde wieder bekannt, sein Grab wurde gepflegt, es wurde sogar ein Ehrengrab. Im Jahre 1976 benannte man die Fußgängerbrücke an der Grenze zwischen Hermsdorf und Frohnau nach Oskar Loerke.

Hedwig Violet Margarete kam am 15. August 1902 in Hamburg als Tochter des Großkaufmanns Wilhelm Ziersch auf die Welt. Während des Ersten Weltkriegs lebte die Familie in der lothringischen Hauptstadt Metz, wo Violet Ziersch die höhere Mädchenschule St. Anna von Weihnachten 1914 bis Herbst 1918 besuchte. Ein knappes Jahr nach dem Kriege studierte sie vier Semester an der Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie, Chemigraphie, Lichtdruck und Gravüre zu München. Zunächst sah es also danach aus, als wolle sie sich ihren Lebensunterhalt als Fotografin verdienen.

Doch es kam anders. In der „Freilandsiedlung Gildenhall“(heute ein Stadtteil von Neuruppin), wo die junge Frau bei der „Lichtbildnerei Warnke“ nach ihrer Ausbildung arbeitete, lernte sie den Berliner Kurt Rudloff kennen, heiratete ihn am 28. Dezember 1929, zog mit ihm nach Frohnau und schenkte drei Kindern das Leben. Ihr Ehemann arbeitete mit seinem Onkel Johannes Klapper zusammen, der schon 1922 im alten Welfenhof am Barbarossakorso (Welfenallee) eine Leihbücherei eröffnet hatte. Die Beiden gründeten 1935 die „Kunst- und Bücherstube Klapper & Rudloff“ im Untergeschoss des Kasinogebäudes am Bahnhof. Schon früh entwickelten Onkel und Neffe die Idee, in ihrem schönen großen Laden Dichterlesungen umrahmt von Musik zu veranstalten.

Der Krieg machte einen dicken Strich durch diese Rechnung. Kurt Rudloff musste als Soldat in den Krieg ziehen, an dessen Folgen er am 29. August 1944 starb. Jetzt musste sich Violet Rudloff mit ihren Kindern allein durchschlagen. Zunächst führte sie die Kunst- und Bücherstube weiter, doch nach der Eroberung Frohnaus durch die Russen zerstörte wenige Tage nach Kriegsende ein verheerender Brand das Kasino und mit ihm den Laden, die Bücher und den bereits angeschafften Flügel, die Lebensgrundlage der Witwe.

Violet Rudloff gab nicht auf. Zunächst erhielt sie von der kommunistischen Verwaltung den Auftrag, die in verlassenen Frohnauer Villen vorhandenen Bücher einzusammeln und – schön geordnet und registriert – im Laden des Dekorations- und Tapeziermeisters Georg Taenzer im Maximiliankorso zu einer öffentlichen Bücherei zusammenzustellen. Es dauerte allerdings nicht lange, bis das Bezirksamt Reinickendorf die Bücher konfiszierte und auf einem Lastwagen abtransportierte. „Meine Mitarbeiterinnen und ich konnten dem Auto nur mit Tränen in den Augen nachsehen. Ich stand wieder vor dem Nichts ...“, schreibt sie in ihren Erinnerungen.

Es blieb der rührigen Buchhändlerin nichts weiter übrig, als ein kleines Zimmer in dem Hause ihrer Wohnung in der Markgrafenstraße 89 zu mieten und für Verkaufszwecke herzurichten. 1946 konnte sie eine neue Kunst- und Bücherstube in der Ladenbaracke am Zeltinger Platz eröffnen. Für diese kaufmännischen Tätigkeiten brauchte sie natürlich die Genehmigung der zuständigen Besat­zungsmacht, und das waren seit dem 12. August 1945 die Franzosen. Violet Rudloff schreibt dazu in ihren Erinnerungen: „Doch zuvor musste mein Gewerbe von der französischen Behörde, der wir im Bezirk Reinickendorf inzwischen unterstanden, genehmigt werden. [...] Da wir keine Pgs. (= Mitglie­der der NSDAP – Verf.) waren, wurde mir am 26. August 1946 genehmigt, wieder eine Buchhandlung zu betreiben.“ Die schriftliche Genehmigung hob Violet Rudloff Zeit ihres Lebens auf.

Doch woher die Bücher nehmen, die zum Verkauf angeboten werden sollten? Die Verlage hatten kaum etwas zu bieten. So kaufte Violet Rudloff Bücher auf, die hungernde Mitbürger in ihrer Not verkauften, und schaffte sie zusammen mit ihrer Gehilfin Erika Haberland in Rucksack und Kinderwagen nach Frohnau. Nach einiger Zeit konnte die Buchhändlerin mit ihrer „Kunst- und Bücherstube“ in den „Treppchenladen“ umziehen – endlich ohne ein undichtes Dach über dem Kopf und mit einer funktionierenden Heizung. Der Name verwies darauf, dass der Eingang zu dem Geschäft in dem Barlebenschen Hause über mehrere Stufen verlief. Hier begann Violet Rudloff schließlich damit, den Traum ihres Mannes zu verwirklichen und – angeregt durch das Beispiel der Buchhandlung Elwert und Meurer – Schritt für Schritt eine Lesergemeinde aufbauen. Ab 1956 führte sie regelmäßig literarische Abende in Frohnau durch. Ein Gästebuch erzählt vom Wachsen dieser Gemeinde und des Frohnauer Kulturlebens.

Im Jahre 1962 wurde die Randbebauung des Zeltinger Platzes vervollständigt. Zwischen Wiltinger und Zeltinger Straße entstand das Hefter-Haus und in ihm der neue Laden für die Buchhandlung. Anfangs hieß er noch „Violet Rudloff. Kunst- und Bücherstube“. Ab 1968 lautete der Name „Buchhandlung Erika Haberland, vormals Violet Rudloff“.

Ironie des Schicksals: Als Violet Rudloff das Fundament für ihre „Kunst- und Bücherstube“ legte, war sie offiziell noch gar keine Buchhändlerin. Was sie zur Führung des Geschäftes befähigte, hatte sie sich mehr oder weniger selbst beigebracht. Ihre Lehrabschlussprüfung als „Buchhändlerischer Gehilfe“ legte sie am 22. April 1948 ab. Im gleichen Jahr erhielt sie vom Magistrat von Groß-Berlin die „Anerkennung für das Kunstgewerbe“. Jetzt war ihr Geschäft von Amts wegen ein „Fachgeschäft für den Einzelhandel im Kunstgewerbe“.

Am 29. April 1988 starb Violet Rudloff. Ihr Grab auf dem Waldfriedhof in der Hainbuchenstraße wurde in einem Faltblatt des Friedhofs in die Gruppe der Ehren- und besonderen Gräber aufgenommen.